»Ich befrage jetzt die Nachbarn.«
Dieses Haus wirkte steril und tot.
Er klingelte an der linken Tür im Erdgeschoss. Niemand und nichts rührte sich, ebenso wie an der rechten Wohnungstür. Es widerstrebte ihm, an einer weiteren Tür dieses Geisterhauses zu klingeln.
Um etwas Zeit zu gewinnen, wählte er die Nummer von Frau Biebersteins Nichte. Er sprach ihr sein Beileid aus und kam dann schnell zu seinem Anliegen.
»Ich muss Sie heute Abend unbedingt noch persönlich sprechen, es ist sehr wichtig.«
Sie klang nicht sehr erfreut, es entstand eine Pause. Burkhardt spürte eine fast schmerzende Trägheit in sich, die er auf seine bleischwere Müdigkeit schob. Ihm kamen keine passenden Worte in den Sinn. Ohne sein Zutun änderte sie ihre Meinung plötzlich.
»Naja, wenn es unbedingt sein muss. Mein Sportkurs ist in einer Stunde zu Ende, auf dem Rückweg komme ich kurz in der Wohnung vorbei. Ich habe Sie doch richtig verstanden, Sie befinden sich gerade dort?«
Burkhardt ergriff das Angebot und stöhnte laut auf, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Er wollte so schnell es ging diesen totenstillen Ort verlassen.
Inständig hoffte er, dass er wenigstens in der nächsten Wohnung auf einen Bewohner oder eine Bewohnerin traf. Er konnte schlecht den Schlüsseldienst bestellen und alle Wohnungen mit der Begründung öffnen lassen, er vermute eine Leiche darin. Spätestens dann würde sein Vorgesetzter ihm den Fall entziehen und ihn womöglich noch während der Probezeit aus dem Dienst entfernen.
Burkhardt rieb sich mit der rechten Hand den verspannten Nacken. So durfte er nicht denken, wenn er vorankommen wollte. Weitere Tote gab es in diesem Haus nicht, jedenfalls keine, die schon mehrere Tage verwesten.
23
Leider hatte er an keiner Wohnungstür Erfolg, so beobachtete er schweigend den Abzug der Spurensicherung sowie den Abtransport des ganzen gekühlten Warenlagers von Frau Bieberstein. Sinnierend blickte er dem letzten Fahrzeug der Spurensicherung nach, nun hieß es für ihn warten. Konzentriert schloss er Frau Biebersteins Wohnungstür von außen ab und klebte ein neues Siegel an die Tür. Er verspürte keinerlei Verlangen, eine Sekunde länger als nötig in der Wohnung zu verbringen. Burkhardt gehörte eindeutig nicht zu den Kriminalbeamten aus Fernsehen oder Romanen, die sich einsam in der Wohnung eines Opfers einigelten und so dem Ursprung des Verbrechens auf die Spur kamen. Er hielt sich an Fakten, die sowohl Gerichtsmedizin als auch die Laboruntersuchungen erbrachten. Und natürlich an Zeugenaussagen. Wenn er sich an seine spiralförmige Ermittlungsstrategie hielt, war er in diesem Moment genau an der richtigen Stelle. Zufrieden mit sich selbst rieb er die Hände. Die unmittelbaren Zeugen waren befragt, jetzt kamen die mittelbar betroffenen an die Reihe, in diesem Fall die Nichte der Toten. In Sichtweite der Eingangstür stand eine Bank, darauf ließ er sich nieder, um auf Bianca Wolff zu warten.
Es wurde schnell dunkel, die hohen Bäume wirkten in der Dämmerung wie ein Verdunklungsrollo. Von seinem Platz aus hatte er eine gute Sicht auf die Fenster der gesamten Wohnanlage. Es waren nur einzelne Fenster beleuchtet, im Treppenaufgang der Toten schimmerte in keiner Wohnung Licht.
Er gähnte und bemühte sich, nicht wieder einzuschlafen. Ein leichtes Frösteln überfiel ihn, unter den Bäumen wurde es mit der Dunkelheit noch kühler und feuchter. Als er Schritte hörte, zuckte er zusammen.
»Frau Wolff?«
Die Frau, die sich bereits auf dem Weg zur Eingangstür befand, blieb stehen. »Herr Burkhardt? Ich hatte Sie in der Wohnung meiner Tante vermutet und mich gewundert, dass dort kein Licht zu sehen ist.«
Sie ging einige Schritte auf ihn zu, während er sich erhob und dabei unauffällig über seine Augen strich, um den Schleier des Schlafs zu vertreiben. Er schätzte sie auf Mitte Dreißig, obwohl er ihr Gesicht bei diesen Lichtverhältnissen nur undeutlich wahrnahm. Aber so geschmeidig, wie sie sich trotz ihrer recht stämmigen Figur bewegte, passte das Alter.
»Die Spurensicherung hat ihre Arbeit beendet, jetzt ist die Wohnung bis auf Weiteres versiegelt.«
Er wartete neugierig auf ihre Reaktion, hatte sie diesen Treffpunkt etwa vorgeschlagen, um in die Wohnung zu gelangen?
»Ach so, ich dachte, Sie wären dort noch beschäftigt.«
Es folgte eine kurze Pause.
»Ich muss gestehen, da bin ich ein wenig erleichtert, nicht in die Wohnung zu müssen.« Sie fuhr mit der rechten Hand über ihren linken Unterarm. »Soll das Gespräch jetzt hier draußen stattfinden?«
Entweder war sie eine gute Schauspielerin oder sie meinte es ehrlich. Spontan hatte Burkhardt eine Idee. Der Fall wirkte sehr diffus und wenig greifbar, da konnte der gesteuerte Zufall helfen.
»Wenn es Ihnen recht ist, können wir auch irgendwo etwas trinken gehen. Dann sparen Sie sich den Weg zum Präsidium.«
»Sehr gerne, ich muss morgen früh zur Arbeit, außerdem ist es hier sehr kühl«, sie holte den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. »Frühschicht bei Machez.«
Sie arbeitete also in der Süßwarenproduktion, bei dem bekannten Markenhersteller, dachte Burkhardt.
»Liegt die Liebe zur Lebensmittelherstellung in der Familie?« Bevor Burkhardt überlegt hatte, hörte er bereits seine eigene Frage. Frei nach dem bekannten Motto, wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich gehört habe, was ich sage. Er ärgerte sich, der Schlafmangel raubte ihm sämtliche Konzentration. Die Gedanken Gift und Lebensmittelproduktion verwickelten sich in seinem Gehirn wie die Eiweißfäden um ein pochiertes Ei. Wieso wussten die Kriminalisten in Romanen eigentlich immer, welche Zusammenhänge wichtig waren? Musste er Machez kontaktieren und die Produkte auf Gift untersuchen lassen? Anscheinend machte er gerade einen eigenartigen Eindruck, Bianca Wolff blickte ihn jedenfalls irritiert an. Wahrscheinlich wusste sie nichts von der Eintopfproduktion ihrer Tante. Er musste in Ruhe seine Gedanken sortieren, deshalb begab er sich auf sicheres Terrain und beschrieb ihr den Weg zur Baguetterie. Vielleicht spielte das Glück mit und sie trafen dort auf Tania oder Hassan. Burkhardt hätte zu gerne die Reaktionen bei einem Zusammentreffen beobachtet.
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