Priester Hagen bemühte sich hingebungsvoll um die beiden mittellosen Schäfchen. Er gab ihnen zu essen und zu trinken, richtete ein Nachtlager her, spendete liebe Worte, traute sie am nächsten Tag zu Mann und Frau, hielt die Eheschließung der Margarete und des Albrecht von Minden in seinem Kirchenbuch fest und versuchte, den beiden nach besten Kräften neue Perspektiven zu eröffnen. Das war nicht ganz so einfach. Gern hätte er ihnen einen Teil ihres Eigentums ersetzt. Nur leider war er ja auch nur ein armer Mann. Er sparte nicht mit lieben Worten, den materiellen Verlust konnte er nicht ausgleichen.
Margarete und Albrecht erholten sich von ihrem Schrecken. Es musste ja irgendwie weiter gehen. Sie waren jung, sie rafften sich auf. Sie beschlossen, die Landstraße in altbewährter Form unter die Füße zu nehmen und sich Arbeit und Brot zu suchen. Schweren Herzens verabschiedeten sich die drei Menschen voneinander. Sich vor der Haustür noch eine Weile sprachlos, bedrückt, nachdenklich gegenüberstehend, fragte Albrecht endlich: „Was schulden wir Ihnen.“ Der Priester lächelte milde und wiegelte ab: „Nichts, meine Kinder.“ Da kramte Albrecht das Tuchpäckchen seiner Mutter hervor, knüpfte es auf, nahm einen Ring heraus und überreichte dem gütigen Gottesmann das Schmuckstück. Seiner verblüfften Frau und dem überraschten Priester erklärte er angeberisch: „Der kluge Mann baut vor. Eine kleine Reserve hat man doch immer.“ Befreit lachten alle drei. Margarete und Albrecht zogen von dannen. Hagen schaute ihnen noch lange nach, bis sie an einer Wegbiegung seinem Blick entschwanden.
Die kleine Reserve versetzte die beiden jungen Menschen in Hochstimmung. Ihre Pläne nahmen hoffnungsfrohe Formen an. Margarete betrachtete kennerisch das Goldkettchen mit dem Anhänger, der wie eine Krone geformt ist, und den Ring, und sie kalkulierte: „Für beides bekommen wir garantiert Pferd und Wagen, und wenn wir sehr gut handeln, sogar noch Wolldecken und etwas Kochgeschirr. Dann sind wir erstmal aus dem Gröbsten raus.“ Albrecht freute sich über die muntere Art seiner Frau. Allerdings gab er zu bedenken: „Das Kettchen dachte ich für Dich als Hochzeitsgeschenk, ist ja aus meiner Familie, und sollte sozusagen eine Tradition begründen. Den Ring können wir verkaufen. Sicher. Und was für Pferd und Wagen und Haushalt noch fehlt, muss ich eben erarbeiten.“ Gut gelaunt stimmte Margarete zu.
Margarete und Albrecht von Minden
Margarete und Albrecht von Minden durchwanderten kreuz und quer das Land. Der Geleitbrief über das Handwerk der Gaukler öffnete ihnen die Stadttore und stellte die patrouillierenden Landreiter zufrieden. Sie lebten von Gelegenheitsarbeiten in Haus und Hof. Zuweilen trat Margarete mit Gesang auf Märkten und in Gastwirtschaften auf. Allmählich kam wieder ein kleiner Hausstand zusammen. Nur leider niemals mehr so viel, dass man sich Pferd und Wagen hätte leisten können oder müssen. Sie transportierten ihr Eigentum auf dem Buckel und hofften von einer Station zur nächsten, dass es bald besser werden möge. Hin und wieder erwog Margarete das Goldkettchen, welches sie nun ständig um den Hals trug, zu verkaufen. Albrecht bestand darauf, die Kette zu behalten. Sie gab nach, und sie hungerten sich tapfer auch noch durch diese Krise. So vergingen viele Monate. Die Winter waren hart, die Quartiere eiskalt, des Sommers war die Landstraße staubig und trocken. Allein, die beiden verloren den Mut nie ganz und machten immer weiter.
Wie von einem Bannkreis umgeben mieden Margarete und Albrecht die Gegend um Tangermünde und Stendal. Man konnte nie wissen, inwieweit Albrecht noch gesucht wurde und eventuell erkannt werden würde. Obwohl Margarete nicht so recht glaubte, dass irgendjemand den Albrecht, so wie er heute ausschaute, überhaupt wiedererkennen könnte. Der Mann war in die Höhe und in die Breite gewachsen. Wetter, Arbeit, Erfolge und Misserfolge, Freud und Leid hatten ihn krass verändert. Aus dem ehemals zarten, gepflegten, verwöhnten und zuweilen unbeholfenen Knaben war ein äußerlich rein grober Kerl mit einem gewinnenden, freigiebigen Herzen geworden. Wiederzuerkennen war Albrecht bestenfalls an seiner Biografie und die musste er ja nicht jedem aufbinden. Nichtsdestotrotz schlugen die beiden um die Gegend von Tangermünde und Stendal gewissenhaft einen großen Bogen.
Im Herbst des Jahres 1613 kamen Margarete und Albrecht nach Wittenberge, eine Stadt an der Elbe. Sie hatten Glück. Der Schmied suchte gerade einen Knecht. Albrecht ward angenommen, Margarete verdingte sich als Magd im Haus, und sie bezogen ein Kämmerchen neben der Werkstatt. Das Stübchen war Tag und Nacht gut geheizt, denn das Schmiedefeuer loderte ohne Unterlass. Albrecht erhielt ausreichend Lohn, so dass sie nicht zu hungern brauchten. Wärme und Nahrung ließ die beiden aufleben und mit den Worten „hier bleiben wir endgültig“ setzten sich der Mann und die Frau in Wittenberge fest.
Albrechts Dienst war denkbar einfach: Am Tage hatte er Botengänge zu erledigen und nachts das Feuer zu hüten. Das durfte nicht ausgehen und es durfte nicht zu hoch lodern. Die Stadtväter hatten ein strenges Brandschutzreglement durchgesetzt. Der Schmied hielt sich sowohl im eigenen Interesse als auch zum Wohlsein der gesamten Bürgerschaft daran. Stadtbrände waren schon überall im Land des Öfteren vorgekommen und die Horrorvision aller Bürger. Brände aus Leichtsinn entstanden und Brände mit Absicht gelegt. Brandwachen hatte jede Stadt, eine gut ausgerüstete Feuerwehr und einen bestens durchdachten Evakuierungsplan. So war es auch in Wittenberge.
Wenn Albrecht nachts das Schmiedefeuer hütete, leistete ihm Margarete gern Gesellschaft. Da erzählte er dann in den langen Stunden bis zum Morgen von der Heimatstadt, der Familie, den Nachbarn, seiner Kindheit, von der Mutter, dem Großvater, eben von alledem, was sein früheres Leben ausgemacht hatte. In Margarete entstand das Bild bis ins Detail und sie wusste am Ende selbst die Farbe der Fensterscheiben zu beschreiben.
Irgendwann hatten sich die Erinnerungen erschöpft. So kam es dann, dass sie neue Pläne schmiedeten. Margarete träumte anknüpfend an ehemalige Erfolge von einem eigenen Theater, möglichst fest etabliert hier in der Stadt, von Publikationen, davon weitere Bildung zu erheischen und auch zu vermitteln. Albrecht sann dem ehemals flüchtig aufgekommenen Wunsch nach, ein Armenhaus einzurichten. Was hinderte die beiden, der Not so glücklich entronnenen, jungen Menschen daran, sich diesen Zielen erneut zuzuwenden? Geld war dazu nötig. Also sah sich Albrecht nach zusätzlichen Diensten um. Er nahm Tätigkeiten aller Art an, verdingte sich über seine üblichen Pflichten hinaus als Kutscher, Handlanger, Aushilfe in vielen Häusern, Höfen, auf Baustellen.
Allmählich sammelten sich Groschen und Taler im Sparstrumpf, einige Goldmünzen kamen auch dazu. In Mußestunden wurde das Geld gezählt und die Visionen zeichneten sich mit klaren Konturen ab.
Im Frühjahr des Jahres 1614 meldete sich Margaretes und Albrechts erstes Kind an. Der werdende Vater geriet vor Freude aus dem Häuschen. „Mein Kind soll es guthaben“, beschloss er froh und schuftete bis zum Umfallen. Die kleine Stube malerte Albrecht neu aus, tischlerte eine Wiege fürs Kind und eine Truhe für die Haushaltswäsche. Margarete hängte bunte Vorhänge auf und stellte Blumen ins Fenster. Sie schneiderte kleine Hemden und Höschen.
Eines Tages erwarb sie beim Gemischtwarenhändler ein Schreibbuch, Tinte und Feder. Von da an notierte sie die Annalen der Familien von Minden und Calberger. Ihrem Mann erklärte sie: „Nach der Familienchronik verfasse ich ein neues Textbuch für mein Theater.“ Sie sprudelte vor Energie. Albrecht opponierte: „Meinst Du nicht, dass vor dem Theater das Armenhaus Priorität hat?“ - „Wir können beides schaffen. Allerdings müssen wir mehr Geld hereinbekommen. Und das bekommen wir nur herein, wenn ich nicht nur ab und an als Magd Hilfsdienste mache. Sieh mal, mein Beruf ist der der Schauspielerin. Nur so kann ich richtig Geld verdienen. Zuerst kommt also das Theater“, entwickelte sie. Das hatte auch für Albrecht eine gewisse Logik. Nur ganz so einsichtig, wie er sich gab, war er indessen nicht. Er lenkte ab: „Welches Stück geben Sie zuerst, gnädige Frau?“ Margarete antwortete ernst: „Vielleicht unser eigenes: Die Wanderungen des armen Mannes.“ - „Ich weiß nicht“, murrte Albrecht, „wen interessieren denn solche Lebenswege?“ Margarete sagte nachdenklich: „Ich denke, das Publikum lässt sich bilden. Wenn man denen immer nur dieses flache Zeug anbietet, muss es ja verblöden.“ Albrecht wiegte den Kopf. Was seine Frau da vorhatte, ging weit über das Übliche hinaus. Man bot auf der Bühne Schwänke, Moritaten,