Grete Minde in Tangermünde. Katharina Johanson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katharina Johanson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752919912
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verstehen.

      Am Schluss brandete ein Riesenapplaus auf. Man rief nach Albrecht Calberger, forderte ihn vors Publikum. Er verbeugte sich wieder und wieder. Man ließ ihn nicht gehen. Sie lachten Freudentränen.

      Linkisch, dumm, erschöpft ging Albrecht mit dem Sammeltöpfchen durch die Reihen der Zuschauer. Sie warfen Münzen und Schmuck zu Hauf hinein. Sie schlugen ihm auf die Schulter, sie sprachen ihm zu, sie freuten sich, sie tätschelten ihn. Das ausgelassene Volk feierte seinen Spaßmacher. Sie lobten den kleinen, getretenen, wackeren Mann.

      In nur drei Stunden hatten die Calberger mehr verdient als sonst in einem halben Jahr. Das war die gute Bilanz. Das Schlechte war, dass Geld auch immer Diebe anzieht. Man musste es gut verstecken. Das beste Versteck ist immer ein offen liegendes. Margarete nähte einen doppelten Boden in des Pferdes Futtersack, schob den Schatz dort hinein und hängte den mit Heu gefüllten Sack dem Tier vor. Niemand wird dort suchen.

      Bis weit nach Mitternacht saßen die drei Calberger zusammen und berieten, wie es weiter gehen soll. Der ursprüngliche Plan, ein paar Tage in Stendal aufzutreten, musste aufgegeben werden. Die aus der Notsituation heraus spontan geborene Rolle des Albrecht war nicht oder nur nach sehr hartem Training wiederholbar. Albrecht ist kein Schauspieler. Außerdem konnte man sich in Stendal nicht mehr frei bewegen. Was den Albrecht hatte bedecken sollen, rückte ihn ins Rampenlicht. Irgendjemand würde ihn auf jeden Fall erkennen, denn wer derart berühmt ist, wird gut beobachtet. Sie mussten dringend aus dieser Gegend hier fort.

      Als die Kirche die Morgenandacht einläutete, waren die drei Gaukler bereits auf der Landstraße Richtung Norden unterwegs.

      Ihr Ziel war die etwa einhundert Meilen oder zehn Tagesmärsche entfernt liegende Stadt Lüneburg. Dort konnten die Calberger ihr Winterquartier nehmen. Die Wirtschaft „Zu den Eichen“ bot günstige Konditionen für Spielleute und die Lüneburger waren ein dankbares und freigiebiges Publikum, welches selbst an kalten Tagen die eine oder andere Aufführung gut besuchte und hoch honorierte.

      Ihre Reisegeschwindigkeit war gering, gerade mal normales Schritttempo. Man schaffte höchstens zehn Meilen am Tag, denn die Wege waren auf großen Abschnitten nur unter elender Mühe passierbar. Außerdem hatten die Calberger eine ordentliche Last zu befördern. Ihr gesamter Besitz türmte sich auf dem Wagen, das Pferd durfte man nicht überanstrengen, sonst saß man unweigerlich fest. An den längs der Straße regelmäßig eingerichteten Gasthäusern hätten die Durchreisenden zwar ein frisches Zugtier gegen ihr ermüdetes eintauschen können, aber die Calberger scheuten die viel zu hohe Taxe für einen derartigen Luxus und man war ja an den alten Gaul auch längst gewöhnt. Sie liebten und schätzten ihr Pferdchen.

      In jeder Ortschaft, die die Calberger passierten, gaben sie eine Probe ihrer Kunst. Die finanzielle Ausbeute war gering, rechtfertigte oft die Mühe, die Bühne aufzubauen kaum. Die Leute waren arm und der berauschende Erfolg des Albrecht als Hanswurst wiederholte sich nicht. Er war eben kein Schauspieler.

      Das konnte die Calberger nicht verdrießen, denn Albrecht machte sich als junger, kräftiger Arbeiter unentbehrlich. Er schob den Wagen über schwierige Stellen und half dem Pferd die Last zu bewältigen. Manche Brücke war überhaupt nicht stabil genug. Dann musste alles entladen, einzeln rüber geschafft und drüben wieder aufgeladen werden. Da lief der Albrecht zu Höchstform auf. Er hatte den drängenden Wunsch, seinen Rettern nützlich zu sein.

      Gemächlich kamen sie voran und wurden mit der Zeit immer enger vertraut. Albrecht fühlte sich unter den Calberger geborgen und wohl. Der Plan, sich ins Ausland abzusetzen, rückte völlig in den Hintergrund. Margarete und Christian konnten sich auch nicht vorstellen, auf den Jungen verzichten zu müssen. Ohne viele Worte, verschrieb er sich gänzlich der Truppe und alle waren es zufrieden.

      Dunkle, undurchsichtige Wälder wechselten mit offenem, freiem Feld. Allmählich färbte sich das Blattwerk bunt. Die Landschaft war atemberaubend schön. Wie die drei Menschen so durch die Gegend zogen, sich an der Natur erfreuten, verspürten sie eine wahre Lust zu leben.

      Soeben den holprigen Hohlweg eines düsteren Waldstücks verlassend, zeigte sich ihnen eine ziemlich große Wiese am Rande eines kleinen Sees. Bizarre, lila Blumen standen zu Hauf zwischen dem matten Grün. Das war herrlich anzusehen. Margarete stoppte den Wagen ab und legte fest: „Hier rasten wir wenigstens zwei Tage.“ Albrecht spannte das Pferd aus. Vater und Tochter hantierten auf dem Wagen und der Junge führte das Tier auf die Wiese. „Um Himmels Willen!“, schrie Margarete erschrocken auf, „bring sofort das Pferd zurück!“ Albrecht gehorchte und lernte nun Folgendes:

      Die kleine Blume auf der Wiese ist die hochgiftige Colchicum autominale, im Volksmund auch Herbstzeitlose genannt. Sein Verzehr, selbst das intensive Einatmen des Duftes, der Abrieb der Pflanzenteile auf der Haut führt mit großer Sicherheit zum Tod. Sehr geringe Dosen können wahrscheinlich ausgeschlafen werden, doch wo liegt die Grenze des Verträglichen? Also Hände weg vom Colchicum autominale. „Und was tun wir dann hier in dieser giftigen Gegend?“, fragte Albrecht dumm.

      Margarete erklärte ihm ihre Mission als Heilerin: Sie sammelt die Kräuter, extrahiert durch Auspressen des Saftes und vorsichtiges Verdunsten der Wasseranteile, die Inhaltsstoffe und bereitet davon ein hochwirksames Elixier. Es gibt Tinkturen, die heilen, und es gibt solche, die absolut sicher töten. Letzteres gewinnt sie jetzt hier von der lila Blume. Albrecht fragte entgeistert: „Wozu, um Himmels Willen, brauchst Du ein solches Mordinstrument?“ Margarete lächelte weise und sprach: „Als Du völlig verzweifelt auf die Greifer wartetest, war Dir da nicht nach Sterben zumute?“ Albrecht nickte in trüber Erinnerung. „Es gibt Situationen im Leben, da wünscht man sich den Tod, weil Weiterleben nur noch Qual wäre. Den Selbstmord als spontane Verzweiflungstat, lehne ich genauso ab wie Du. Aber das, was heute bei der Tortur oder am Richtplatz einem Menschen angetan wird, ist so grausam, dass mein Gift ein Gottessegen ist und den Eintritt des armen Mannes in den Himmel erleichtert. - Unser Pferdchen lass nicht auf die Wiese. Geh‘ und pflücke Futter, ganz ohne die lila Blume, schau genau drauf und reiche es unserem treuen Gesellen.“

      Albrecht zog mit einem Sack los und pflückte Grünzeug. Margarete sammelte, vorsichtig Kelch und Stängel berührend, die Blume in einen Korb. Christian baute das Lager auf und richtete eine Kochstelle ein.

      Bis weit nach Mitternacht hantierte Margarete mit Mörser und Stößel, Töpfchen und Pfännchen. Albrecht verfolgte ihr Tun mit sorgender, ängstlicher Neugier. Im Widerschein des Feuers sah das konzentriert arbeitende Mädchen wie eine überirdische Erscheinung aus. Gegen Morgen füllte sie das gewonnene Extrakt in kleine, dickwandige Fläschchen, stöpselte sie gewissenhaft zu und verstaute sie im Wagen. Sie räumte ihren Arbeitsplatz auf und legte sich erschöpft zur Ruhe.

      Da schloss auch Albrecht die Augen. Im Traum sah er Margarete sich in Krämpfen windend. Er trug sie zum Lager. Er wollte sie retten. Er gab ihr belebende Mittel. Nichts half. Sie starb im Feuer. Der Nachtvogel schrie: „Ki witt, ki witt.“ Schweißgebadet erwachte Albrecht. Er richtete sich auf. Es war längst heller Tag. Margarete war nicht zu sehen. Christian werkelte am Wagen. Albrecht rief erschrocken: „Wo ist Margarete?“ Der Alte schaute sich um und zeigte in die Richtung zum See. Albrecht stürzte dorthin und sah die Nixe beim Bade. Diskret zog er sich zurück und schalt sich einen Tor.

      Das Elixier war also gewonnen, Albrecht wähnte, es könne weitergehen und wartete auf das Zeichen, zur Fahrt zu rüsten. Allein weder Christian noch Margarete machten Anstalten, das Lager aufzulösen. Der Alte hockte schon geraume Zeit im Schatten eines Baumes und blätterte in einem Buch. Jetzt kam Margarete vom Wagen herunter, legte sich auf eine wollene Unterlage und begann, bäuchlings so daliegend, den Kopf in die Hände gestützt, ebenfalls zu lesen. Albrecht wusste, dass die Calberger eine ganze Kiste mit Büchern bei sich haben, und sobald Gelegenheit war, gern eins davon vor die Nase nahmen. Das erstaunte und befremdete ihn gleichermaßen. Gelegentlich schrieb Margarete sogar etwas in ein Büchlein ein. Exponieren sich die Gaukler nicht mit derartigem Gehabe?, fragte sich Albrecht besorgt. Der tiefe Sinn ihrer Schriftkunde erschloss sich ihm sich nicht, machte ihn eher misstrauisch.

      „Vertrödeln wir nicht unsere Zeit?“, rief er aus. Margarete ließ sich nicht stören. Der Alte empfahl gelassen: „Du kannst Dir auch eins nehmen. Das schadet nicht. Und uns drängt doch nichts. Ein paar