„Saskia hat bereits nach dir gefragt“, begrüßte ihn Claudia am nächsten Morgen. „Irgendwie hat sie dich anscheinend ins Herz geschlossen.“
„Hat die Nachtschicht irgendetwas darüber gesagt, wie es ihr erging?“, fragte Rene nach.
„Sie mussten die Dosis erhöhen. Frau Herrmann war wohl mehrmals bei ihr, um ihr vorzulesen. Du weißt ja, dass sie sich selbst immer Kinder gewünscht hat. Ich glaube, mit ansehen zu müssen, wie es mit der Kleinen zu Ende geht, macht sie ganz schön fertig.“
Rene überlegte einen Moment. „Wenn wir Tanja anrufen und sie bitten den Rest meiner Tagesschicht zu übernehmen, dann könnte ich nach Hause fahren und Frau Herrmanns kommende Nachtschicht machen. Tanja schuldet mir ohnehin noch einen Dienst, den ich für sie übernommen habe, als sie vorgestern aus Holland nicht wegkam. Kannst du sie mal anrufen, ob sie inzwischen schon zu Hause angekommen ist? Ich sehe derweil nach Saskia.“
Die Idee, bereits einen Tag früher die Nachtwache zu übernehmen, kam Rene eigentlich ganz gelegen. Immerhin bedeutete es für ihn auch, einen Tag früher an die Daten des Krankenhauscomputers zu gelangen. Zudem hätte er ausreichend Zeit zur Verfügung, um von zu Hause aus die ersten drei Angehörigen anzurufen, deren Adressen und Telefonnummern sich fein säuberlich zusammengefaltet in seiner Brieftasche befanden.
„Hey, Rene“, begrüßte ihn Saskia, als er den Raum betrat. „Hey, Saskia. Na wie geht es dir und Mr. Bär heute?“
„Mr. Bär hat die ganze Nacht kaum geschlafen. Ich glaube, er hatte Schmerzen.“
„Sicher, dass du von Mr. Bär sprichst?“
„Na ja, mir ging es auch nicht besonders gut. Aber die Ruth hat mir vorgelesen und dabei konnte ich einschlafen.“ Rene streichelte ihr zärtlich über den Kopf.
„Du, Rene?“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Wenn ich doch jetzt bald sterben muss, was wird dann aus Mr. Bär? Ich möchte nicht, dass er wieder in das blöde Kinderheim zurück muss. Die machen ihn bloß kaputt. Kannst du dich vielleicht um ihn kümmern?“
Rene wusste genau, dass er diesem kleinen Mädchen nichts mehr vormachen konnte. Ihr zu erzählen, dass sie bald wieder gesund werden würde und sich selbst um Mr. Bär kümmern könnte, hatte keinen Sinn mehr. Ihre Tage waren gezählt und sie wusste es.
Sie hatte ihre Krankheit und die Tatsache bald sterben zu müssen längst schon akzeptiert. Kein Erwachsener, der ihm jemals begegnet war, nahm diese unumstößliche Tatsache so tapfer hin wie dieses kleine Mädchen. Ob ihr überhaupt klar war, was sterben und Tod wirklich bedeuten, das sollte Rene nie erfahren.
Ihre einzige Sorge galt dem ramponierten Bündel, bei dem es sich einst um einen Teddybär gehandelt hatte.
„Na ja, Saskia, meinst du, er würde mit zu mir wollen? Ich würde mich gerne um ihn kümmern.“
Sie hielt ihr einzig verbliebenes Spielzeug an ihr Ohr. „Also, Mr. Bär sagt, er will. Aber eins musst du mir versprechen.“ Rene lächelte kurz, setzte aber sofort wieder ein ernstes Gesicht auf, um seiner kleinen Patientin zu demonstrieren, wie ernst er sie nahm. „Was soll ich dir denn versprechen?“
Saskias braune Knopfaugen wurden richtig groß. „Du darfst Mr. Bär nie in ein Heim geben.“
„Großes Ehrenwort“, sagte Rene und reichte ihr seine Hand, um das gegebene Versprechen zu besiegeln.
Claudia kam in den Raum. „Ich habe Tanja erreicht, sie kam zwar erst heute Nacht zu Hause an, ist aber in einer Stunde hier und übernimmt den Rest deiner Schicht.“
Als Rene sich wieder zu Saskia umdrehte, stellte er fest, dass sie inzwischen wieder eingeschlafen war. Vorsichtig löste er ihre kleinen Finger, die immer noch seinen Daumen umklammerten. „Psst! Lass uns rausgehen. Sie braucht jetzt ihren Schlaf. Wer weiß, wie viele gute Träume ihr noch bleiben?“
„Du hast bestimmt recht“, bestätigte Claudia. „Sie hat, laut Frau Herrmann, die ganze Nacht kaum geschlafen. Ich glaube, sie hat sich krampfhaft wach gehalten und auf dich gewartet.“ Beide drehten sich noch einmal um.
Der Herzmonitor piepte leise und im Moment völlig regelmäßig.
Bevor Rene das Krankenhaus verließ, holte er für Saskia noch einen Pudding aus der Kantine. Wenn sie aufwachen würde, dann wäre Tanja bei ihr. Tanja konnte gut mit Kindern umgehen und Saskia bestimmt erklären, dass Rene bereits am Abend wieder bei ihr sein würde.
Auf dem Heimweg versuchte er Thomas auf seinem Handy anzurufen, aber entweder hatte er es abgeschaltet oder im Keller einfach nur keinen Empfang. Also beschloss er ihm eine SMS zu schicken, um ihn über die unerwartete Planänderung zu informieren.
Um mit den Angehörigen der ehemaligen Patienten zu telefonieren, fuhr er nach Hause, weil er dort eine Telefonflatrate hatte, was bedeutet, dass für alle anfallenden Gespräche ins deutsche Festnetz keine zusätzlichen Gebühren entstehen. Bereits bei der ersten Nummer, die er wählte, stieß er jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, als ihm eine Stimme ins Ohr flüsterte, dass die Rufnummer leider nicht vergeben war. Noch einmal überprüfte er den Namen und die Adresse im Telefonbuch. Der dort angegebene Anschluss wies einen ‚Manfred Haller’ aus. Die Schreibweisen waren identisch. Also hatte er keinen Fehler gemacht, als er die Telefonnummer herausgesucht hatte. Eine Gegenkontrolle im stets aktuellen Online-Telefonverzeichnis ergab auch nichts anderes.
Kurz entschlossen griff er sich seine Autoschlüssel und fuhr zur angegebenen Adresse. Das Haus, in dem Manfred Haller wohnte, befand sich mitten in der Stadt. Es war einer dieser Altbauten, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Die Fassade war mit Ornamenten verziert und die Hauseingangtür mindestens vier Meter hoch. Irgendwann im Laufe der Jahre war eine Klingelanlage im Eingangsportal installiert worden, wie sie bei der Erbauung des Hauses mit Gewissheit noch nicht existiert hatte. Rene fuhr die vier Spalten mit den Namen nacheinander von oben nach unten ab. Der Name Haller war jedoch nicht zu finden. Kurzerhand klingelte er irgendwo im Erdgeschoss. Ein leises Summen verriet, dass jemand die Haustür entriegelte. Rene trat ein und sofort lugte der Kopf einer älteren Dame um die Ecke. „Wir kaufen nichts!“ Rene lachte. „Ich will Ihnen auch gar nichts verkaufen. Ich suche Familie Haller.“
„Die wohnen nicht mehr hier“, erwiderte die ältere Dame ihm in einem rüden Ton.
„Mein Name ist Rene Reinicke, ich habe Herrn Haller im Krankenhaus betreut und müsste jetzt dringend mit Frau Haller sprechen.“
Wieder äußerte sich die ältere Dame mit einem erkennbaren Unterton der Missbilligung.
„Ich denke nicht, dass Inge mit euch Kurpfuschern noch etwas zu tun haben will. Und jetzt verlassen Sie bitte das Haus. Sie haben hier nichts verloren.“
Bevor Rene darauf reagieren konnte, fiel die Wohnungstür ins Schloss und ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder zu gehen.
Enttäuscht fuhr er wieder nach Hause. Im Internet suchte er nun die Telefonnummer von Inge Haller. Als er nicht fündig wurde, versuchte er es mit dem Vornamen Ingrid. Diesmal hatte er mehr Glück. Eine Ingrid Haller wohnte nur zwei Querstraßen von der Adresse, die er erfolglos besucht hatte, entfernt. Sofort wählte er die angegebene Telefonnummer. Frau Haller konnte sich noch sehr gut an ihn erinnern, auch wenn der Tod ihres Mannes nun fast zwei Jahre zurücklag. Rene bat darum, sie besuchen und mit ihr über ihren Mann reden zu dürfen. Sofort stellte sich Skepsis bei der 55-jährigen Witwe ein. „Haben die Ärzte damals etwa doch Mist gebaut?“
„Nein“, entgegnete Rene. „Ich möchte einfach alles, was ich in meiner beruflichen Laufbahn erlebe, aufschreiben, um mich später daran zu erinnern. Und wer weiß? Vielleicht schreibe ich eines Tages mal meine Memoiren.“
Frau Haller willigte ein, weil sie dafür das größte Verständnis hatte. Auch sie hatte vor einigen Jahren eine Geschichte in Romanform geschrieben, sie jedoch durch den