Thomas schüttelte ablehnend den Kopf. Nicht nur, weil er einem Freund seine Hilfe verwehren wollte, sondern auch, weil er keine Chance sah, ihm zu helfen, selbst wenn er dazu bereit gewesen wäre.
„Du würdest nichts finden, weil es diese Akten hier unten nicht gibt. Meinberg selbst hat sie unter Kontrolle. Niemand weiß, was er damit macht. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob sie überhaupt noch auf Papier existieren, auch wenn wir eigentlich dazu verpflichtet sind, die Originale zu behalten. Es wird behauptet, dass er in einem Pilotprojekt als erste Abteilung die komplette Digitalisierung der Daten gefordert hat.“
„Bist du dir sicher, dass wir den gleichen Meinberg meinen?“
„Ja ich meine wirklich deinen Chef. Dass ausgerechnet er als Erster den Finger gehoben hat, das hat alle im Krankenhaus damals sehr überrascht. Schließlich hat Meinberg nicht gerade den Ruf, in irgendwelchen Sachen den Vorreiter zu spielen. Aber in diesem Fall hat er es wohl getan. Auf jeden Fall kommt seitdem niemand außer ihm an die Unterlagen heran. Und glaube mir, in seinem Computer sind sie so sicher wie in Fort Knox. Da gibt es elektronische Verschlüsselungsverfahren, von denen selbst die Bundesbank nur träumen kann.“
Rene sah seinen alten Bekannten an und schüttelte leicht lächelnd den Kopf. „Warum überrascht mich das nicht wirklich? Ich persönlich traue diesem Typen nicht weiter als ich ihn sehe. Und nach dem, was du mir da gerade erzählst, jetzt noch weniger als zuvor.
Der Kerl hat doch offensichtlich etwas zu verbergen. Ich weiß nur noch nicht was. Also muss ich eine andere Möglichkeit suchen, um herauszufinden, was dahintersteckt.“
Rene drehte sich zum Gehen um, wurde aber bereits wieder gestoppt, noch bevor er die Tür erreichte.
„Bist du sicher, dass du dich wirklich mit Meinberg anlegen willst? Wenn der etwas mitbekommt, dann zerreißt er dich in der Luft.“
Noch einmal wandte Rene sich Thomas zu.
„Muss er denn etwas mitbekommen?“ Plötzlich gab er sich ungewöhnlich selbstsicher. Der rote Kopf, der gerade noch bewiesen hatte, bei einer Lüge ertappt worden zu sein, war verschwunden und wich einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit. Thomas kannte diese Züge an Rene nicht, aber irgendwie imponierte ihm die neue Art an seinem alten Freund. Im Innersten wartete er bereits seit langer Zeit darauf, dass endlich mal jemand einem aus der Führungsriege des Krankenhauses die Stirn bieten würde. Blitzschnell überlegte er nach einem Weg, um bei diesem Versuch helfen zu können. Und schon kam ihm eine Idee.
„Wenn du nicht an die Akten herankommst, dann solltest du dich vielleicht auf das konzentrieren, was nicht aufgeschrieben wurde.“
Jetzt war es Thomas, der mysteriös lächelte.
„Das, was nicht aufgeschrieben wurde? Wie soll ich das jetzt verstehen?“
„Nun da gibt es doch bestimmt noch Angehörige. Und für die Adressen ehemaliger Patienten brauchst du keine verschlossenen Akten oder verschlüsselten Daten, sondern nur das Patientenbuch der stationären Aufnahme.“
Rene musste an seine Begegnung mit der dicken Schwester denken, für die er mit dem Hintern gewackelt hatte und die das aktuelle Buch vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte.
„Wenn dir die Namen der Patienten bekannt sind“, fuhr Thomas fort „dann solltest du auch die Adressen herausfinden können, um die Angehörigen direkt zu befragen. Und eines weiß ich aus meiner Zeit als Referendar der Rechtsabteilung und den vielen Zeugenaussagen, die ich damals gelesen habe, mit Gewissheit:
Angehörige erinnern sich an Dinge, die kein Arzt jemals niederschreiben würde.“
„Und wo finde ich diese Bücher?“ Rene spürte, dass Thomas inzwischen bereit war, ihm zu helfen.
„Die könnten rein zufällig heute Abend in einem Wäschewagen hinten neben dem Parkplatz der Wäscherei liegen. Was kann ich dafür, wenn so ein Trottel vom Pflegepersonal die dreckige Wäsche in eine meiner Gitterboxen wirft. Und die Dinger sehen sich auch wirklich zum Verwechseln ähnlich. Allerdings muss ich, wenn die Dinger morgen früh immer noch in der Box liegen, eine Verlustanzeige schreiben, bevor sie jemand anders dort findet. Was meinst Du? Bekommst du das hin?“
Thomas warf Rene einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Findest du wirklich, dass wir Pfleger alle Trottel sind?“
Thomas nahm die Tasse, die Rene benutzt hatte, vom Tisch und stellte sie in eine kleine Kunststoffwanne.
„Nein, nicht alle. Du bist kein Trottel. Du bist ein komplett Wahnsinniger.“ Dann riss er einen kleinen Zettel von einem Notizblock, notierte seine Handynummer und schob sie zu Rene rüber.
„Gib Laut, wenn du die Bücher hast, weil ich ansonsten die Verlustanzeige schreiben muss. Und jetzt mach, dass du hier rauskommst.“
Rene wurde genau wie seine Schwester zu einem ehrlichen Menschen erzogen. Während sich viele der Gleichaltrigen irgendwann damit rühmten, etwas im Kaufhaus gestohlen zu haben, verzichtete er auf die Anerkennung der anderen, die man durch solche Mutproben damals erwarb. Seine Mutter konnte ihren beiden Kindern zwar nie viel Luxus bieten, aber darauf kam es auch nicht an. Sie gab ihnen die Liebe, die ihre Kinder benötigten. Sie sorgte für ihr leibliches Wohl und in kultureller Hinsicht stand ihr Helga mit all ihrem Wissen zur Seite. Neben der Musik interessierte sich Helga auch für viele der anderen kulturellen Einrichtungen wie Museen, Theater und vieles mehr.
Die Kinder konnten, wann immer sie Hilfe brauchten, zu ihr kommen, um sie etwas zu fragen. Auch wenn Rene es damals noch nicht verstand, so hatten die unzähligen Museumsbesuche mehr zu seiner Entwicklung beigetragen, als es bei den meisten anderen Menschen seiner Generation der Fall war. Wenn ihre Mutter zum Beispiel mal einkaufen war, dann gingen sie zu Helga, die sie gerne versorgte und ihnen auch bei den Hausaufgaben half. Helga brachte die exotischsten Speisen auf den Tisch, ohne jemals die Orte, aus denen die Rezepte für diese Speisen stammten, bereist zu haben. Allein ihr Gewürzregal beherbergte über 200 Gewürze.
Während zum Beispiel die amerikanische Bevölkerung Erdnussbutter zu jeder Gelegenheit als Soße für fast jedes Gericht benutzte, war sie für Helga ein exotisches Gewürz. Sie verwendete sie so fein dosiert, dass nie jemand Erdnussbutter in den Speisen vermutete. Sie selbst hatte lange darauf verzichten müssen, weil ihr geschiedener Mann allergisch darauf reagierte.
Mit ihrer Musik hatte Helga immer die Möglichkeit sich etwas zu ihrem normalen Einkommen dazuzuverdienen. Durch diese Gabe war sie auf keinen Vollzeitjob angewiesen, sodass ihr genügend Zeit für ihre kulturellen Interessen und für die Kinder ihrer Nachbarin zur Verfügung stand. Ihre Tätigkeit beim hiesigen Postamt nahm sie nur vormittags in Anspruch, während Renes Mutter als Schneiderin zuerst in einer Fabrik und später, als sie sich eine professionelle Nähmaschine leisten konnte, sehr viel zu Hause arbeitete.
An all dies musste er denken, als er sich anschickte, zum ersten Mal in seinem Leben eine Straftat zu begehen und Akten zu entwenden, die dem Krankenhaus gehörten.
Als er kurz vor 17.00 Uhr am Parkplatz ankam, war es draußen bereits dunkel. Offensichtlich wusste Thomas sehr genau, dass die Wäscheboxen unter einem Wellblechdach direkt neben der Auffahrt zur Wäscherei aufbewahrt wurden und dort bis zum Morgen warten mussten, um entleert zu werden. Wahrscheinlich wusste er das noch aus seiner Zeit in der Verwaltung. Die Wäscherei schloss bereits um 16.00 Uhr, was irgendetwas damit zu tun hatte, dass unterschiedliche Bereiche auch unterschiedlichen Tarifverträgen unterlagen. Es standen nur drei Boxen auf einem Platz, der offensichtlich für wesentlich mehr vorgesehen war. Das Einzige, was Rene nervös machte und ihn sich immer wieder umschauen ließ, war eine Laterne, die unmittelbar hinter ihm den Fußgängerweg ausleuchtete.
Vorsichtig ging er auf die erste Box zu. Den Blick zum Weg ausgerichtet, begann er über das Gitter hinter sich zu greifen und die schmutzige Wäsche zu durchwühlen. Teilweise glaubte er, dass jeden Moment sein Rücken durchbrechen würde, weil er extrem schmerzhafte Verrenkungen machen musste, um den Boden der Box zu erreichen. Fehlanzeige. Hatte Thomas sein Versprechen tatsächlich gehalten oder