Helga hatte sie selbst noch eingespielt. Sie war erst vier Monate alt und in Renes Gegenwart mithilfe eines Computerprogramms auf seinem Laptop entstanden. Helga war zu der Zeit schon davon überzeugt gewesen, diese Krankheit nicht zu überleben, weshalb sie Rene darum bat, dieses Vermächtnis mit ihr zusammen zu erstellen.
In dem Moment, als die ersten Tastenanschläge ertönten, konnte selbst er seine Tränen nicht zurückhalten.
Gemäß ihrem Wunsch fand Helgas Asche ihre letzte Ruhestätte auf einer Wiese neben anderen Gräbern. Die Friedhofsverwaltung hatte die dafür vorgesehene Stelle schon am Morgen vorbereitet, damit die Trauergäste ihre mitgebrachten Blumenarrangements dort ablegen konnten.
30 Minuten nachdem die kleine Trauergemeinde in ihre Autos gestiegen war, traf man sich in einem Restaurant am Rande der Stadt, wo die Tafel für die 26 Gäste bereits eingedeckt war.
Es war Helgas Lieblingsrestaurant gewesen und zugleich der Ort, an dem inzwischen ihr Klavier ein Zuhause gefunden hatte. Der Wirt hatte Helga und ihren Musikerfreunden vor vier Jahren einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem sie ungestört üben konnten. Seine einzige Bedingung, die er daran geknüpft hatte, war, dass die Gruppe auch auf Veranstaltungen wie Hochzeiten oder Konfirmationen spielte.
Rene blickte auf das Klavier, welches zu Helgas Ehren hier im kleinen Saal stand. Es war die erste Feierlichkeit seit vier Jahren, bei der sie nicht auf dem kleinen Hocker davor saß, um die anwesenden Gäste zu unterhalten. Noch eine Woche, bevor sie nach drei erfolglosen Chemotherapien stationär im Krankenhaus aufgenommen worden war, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, dort zu spielen. Dass dies ihre Abschiedsvorstellung werden sollte, das vertraute sie nur Rene an. Weder seine Familie, noch einer der Musiker konnten erahnen, was an diesem Abend in den beiden vorgegangen war. Und nun, fast einen Monat später, schwieg es und sollte nie wieder in diesen Räumen erklingen. Rene musste daran denken, dass er das Instrument zusammen mit Andy seinerzeit zum Restaurant transportiert hatte. Es erschien ihm, als wären seitdem erst wenige Tage vergangen.
Sie hatten damals eigens dafür einen Lkw angemietet und das schwere Instrument unter Helgas wachsamen Augen ein- und auch wieder ausgeladen.
Das gleiche Instrument, das seine Besitzerin einst veranlasst hatte, an der Wohnungstür ihrer Nachbarn zu klingeln.
„Sage mal, Rene, du bist doch Krankenpfleger!“ Rene blickte etwas überrascht in die Augen einer weißhaarigen Dame, die ihm jedoch völlig unbekannt vorkam. Sie saß am Tisch zusammen mit Helgas Musikerfreunden neben Herbert, den er bereits kannte, weil dieser damals seine Geige aus der Hand gelegt hatte, um den beiden jungen Männern mit ihrem sperrigen Transportgut zu helfen.
„Ja, warum fragen Sie mich das jetzt?“
„Nun, unsere Freundin Helga, Gott sei ihrer Seele gnädig, ist in diesem Jahr bereits die dritte Freundin, die ich verloren habe. Gehst du als Fachmann davon aus, dass es jemals gelingen wird, ein Mittel gegen den Krebs zu finden?“
„Nun, ich würde mich nicht als Fachmann bezeichnen, immerhin bin ich nur Krankenpfleger und kein Arzt, weshalb ich wohl der falsche Ansprechpartner bin. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass selbst Professor Meinberg, der Leiter unserer Onkologie, diese Frage nicht beantworten könnte. Kurzum, wir können alle nur abwarten und hoffen.“ Keiner der Anwesenden hatte dem etwas hinzuzufügen.
Nur Herbert, der grad lieblos in einer Kompottschale herumstocherte, sprach mehr zu sich selbst als zu den Anderen. „Und wenn die eines Tages etwas finden, dann werden wir als normale Menschen wohl die Letzten sein, die davon erfahren.“ Jeder hatte den Satz gehört aber niemand wollte darauf eingehen. Erst jetzt hob er den Kopf und sah sich in der Runde um. „Oder kann mir zum Beispiel irgendjemand erklären, warum es bei Krebskranken fast immer den jeweils Zweitgeborenen einer Familie betrifft? Wenn ihr mich fragt, dann ist das schon mehr als merkwürdig.“
Alle Trauergäste sahen einander schweigend an. Man konnte förmlich spüren, wie sie über Herberts Bemerkung nachdachten. Einer nach dem anderen meldete sich zu Wort. Es schien tatsächlich etwas an dem zu sein, was Herbert mit ungerührter Miene öffentlich in den Raum gestellt hatte. Tatsächlich glaubten sich die Anwesenden daran zu erinnern, dass viele ihrer Freunde, die sie in den letzten Jahren zu Grabe trugen, einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester hatten. Andere hingegen sahen die Ursachen vorrangig in steigenden Umweltbelastungen sowie verseuchten Lebensmitteln. Als Krankenpfleger hatte Rene schon viele Diskussionen dieser Art erlebt. Dieser Nachmittag sollte jedoch nicht irgendwelchen Grundsatzdiskussionen, sondern dem Gedenken an eine besonders liebenswerte Verstorbene gelten. Demonstrativ stand er auf und prostete den übrigen Trauergästen zu. „Auf Helga.“
Man redete noch viele Stunden über Helga bevor auch der letzte Gast gegen 21.00 Uhr von Rene und seiner Familie verabschiedet wurde.
Es war die eine Bemerkung von Herbert, die Rene in den nächsten Tagen immer wieder beschäftigte. Er hatte gerade seinen Dienst begonnen, als er wieder einmal daran denken musste.
Die Formulierung „wir als normale Menschen“ ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sollte es wirklich Unterschiede zwischen normalen und weniger normalen Menschen geben? Und wenn ja, wer entscheidet, wann es sich um einen normalen und wann um einen besonderen Menschen handelt? Und wie verhielt es sich mit der Tatsache, dass es fast immer einen Zweitgeborenen betraf?
Biologisch und medizinisch war diese These mit Gewissheit nicht zu halten. Rene dachte an die Menschen, die er in den vergangenen Jahren auf ihrer letzten Reise begleitet hatte. Alle Patienten, mit denen er zu tun hatte, erschienen ihm eigentlich ganz normal, aber etwas hatten sie alle gemeinsam: Sie starben an der gleichen Krankheit.
KREBS
Heimtückisch, bösartig, immer unterschiedlich, aber unheilbar.
Plötzlich beschlich ihn das Gefühl, dass alle Begleitumstände des Todes, so wie er damit konfrontiert wurde, irgendwie einem Muster folgten. Er konnte nicht genau bestimmen, was es war, aber etwas war immer gleich. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen, kam aber nicht dahinter, was ihm daran so merkwürdig vorkam.
War es die Behandlung? Oder die Diagnose? Waren es vielleicht die Patienten selbst? Oder spielte ihm Herberts Behauptung über die jeweils Zweitgeborenen einen Streich?
Rene schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Als ehemaliger Abiturient müsste es doch möglich sein, eine Verbindung zu erkennen. Seine Schwester Julia war in solchen Dingen wesentlich besser als er. Sollte er sie anrufen? Julia würde wahrscheinlich wieder alles auf ihr Fachgebiet der Mathematik beziehen. Rene hingegen hatte es nie geschafft eine Verbindung zwischen Zahlen und beispielsweise Musik herzustellen. Wahrscheinlich war seine Denkweise für solche Zusammenhänge zu gefühlsbetont. Vor seinem geistigen Auge tanzten plötzlich Zahlen hin und her. Könnte Julia daraus wirklich etwas erkennen?
Rene versuchte sich darauf zu konzentrieren, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen, es seiner Schwester gleichzutun.
Er entschied, diesen Gedanken für den Moment nicht weiter nachzugehen und widmete sich wieder seinen beruflichen Aufgaben.
Inzwischen lag bereits der zweite Patient nach Helga im selben Bett, in dem vor neun Tagen die beste Freundin seiner Familie gestorben war. Nur ein paar Tage zuvor hatte er wieder mit ansehen müssen, wie eine Frau die Hand ihres Mannes bis zur letzten Sekunde festgehalten hatte. Als es so weit war, wollte die Frau die Hand ihres Mannes gerade loslassen, als Rene sie bat noch einen Moment zu warten. Wieder hatte er begonnen innerlich zu zählen. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig …“ Genau wie Rene wenige Tage zuvor, saß diese Frau fünf Tage am Sterbebett auf diesem einsamen Stuhl.
Und auch der Mann, der diesen Abend neben seiner sterbenden Tochter verbrachte, würde sich bald von ihr verabschieden müssen.
„Es