„Na, hören Sie mal! Haben Sie denn hier keinen Gerichtsmediziner, der die Todesursache feststellt?“
„Doch, haben wir! Aber die Frau lebt! Sie hat nur eine Weile ziemlich fest geschlafen. Außerdem heißt sie nicht Martha Klein, sondern Esmeralda Kleeblatt und ist Schauspielerin!“
Dr. Schäfer war sprachlos.
Elsterhorsts Ton wurde schärfer. Das ist nicht nur grober Unfug, sondern Irreführung der Staatsgewalt, Vortäuschung einer Straftat. Dafür kommen Sie unter Umständen für mehrere Jahre ins Gefängnis. Mit etwas Glück bekommen Sie Bewährung!“
Schäfer war aufgesprungen.
„Nein!“ rief er. „Nein! Es war versuchter Mord. Ist es meine Schuld, dass das Zeug nicht wirkte? Hören Sie, ich bin nicht irgendwer! Ich bin 77 Jahre alt. Ich war Anwalt und kenne meine Rechte!“
„Die da wären?“
„Ich habe alles in meiner Macht stehende getan, um diese Frau zu töten. Dass es nicht geklappt hat, kann mir nicht angelastet werden. Ich habe ein Recht auf mindestens zehn Jahre Knast. Ich bestehe darauf.“
„Sie unterstehen der Rechtsprechung wie jeder andere.“
„Und was …“, schrie Schäfer und stieß den Tisch um, der ihn von Elsterhorst trennte, „was ist, wenn ich Sie jetzt mit bloßen Händen erwürge? Ich bin gemeingefährlich, ich gehöre in den Knast, in den Seniorenknast!“
Er hatte seine knochigen Hände noch nicht um Elsterhorsts Hals gelegt, da sprang schon Rinaldo an ihm hoch, zwei Polizisten stürmten herein und überwältigten den alten Mann. Das feine Tuch ging in Fetzen.
„Sie werden sich noch wundern!“ rief er laut.
Und das tat Elsterhorst auch.
Esmeralda Kleeblatt
Nein, so etwas hatte Elsterhorst noch nie erlebt. Da wird er Zeuge eines Verbrechens, das wahrscheinlich gar keines ist. Er alarmiert die Polizei und macht alle Pferde scheu, kann den mutmaßlichen Täter genau beschreiben und sieht, wie das Opfer abtransportiert wird.
Und plötzlich gibt es weder Opfer noch Täter? Soweit so gut?
Und dann sitzt da ein ehemaliger Anwalt, hat sich selbst in Polizeigewahrsam begeben und besteht darauf, die Tat begangen zu haben. Er wird sogar handgreiflich. Sein Ziel: Er will in den Knast, unbedingt und zwar auf unbestimmte Zeit. Irgendetwas stimmt da nicht. Und er würde es herausbringen. Also machte er sich auf den Weg, um das angebliche Opfer, diese Esmeralda Irgendwas, aufzusuchen.
Ihre Adresse hatte er im Krankenhaus erfahren – mit Hilfe seines Dienstausweises und ein paar erfundenen Ausreden. Er hatte sich entschlossen, diesen Ausflug als privaten Besuch zu verbuchen. Also konnte er auch allein dorthin gehen.
Der Tag war trüb. Er schlenderte erst so dahin zwischen Staatskanzlei, Teehaus, Monopteros und Chinesischem Turm, bevor er sich in Richtung Giselastraße auf den Weg machte. Rinaldo blieb an jeder Hecke stehen und schnüffelte überall rum. Es wimmelte ja nur so von Hunden im Englischen Garten, die ihre Duftspuren freigiebig hinterließen.
Bald hatten sie das Haus mit der entsprechenden Nummer erreicht. Es war ein sehr altes Haus. Kein Wunder! Das ausersehene Pseudo-Opfer war ja auch alt gewesen. Neben der Klingel war ein vierblättriges Kleeblatt angebracht. Er läutete.
Die Frau, die ihm öffnete, war wohl in seinem Alter, eher jünger und trug Jeans und einen modischen Pullover. Ihre kurzen Haare sahen aus als wäre sie in einen Windstoß geraten. Sie lachte.
„Das ging aber schnell. So bald hätte ich Sie gar nicht erwartet.“
Erwartet? Elsterhorst verbarg sein Erstaunen hinter einem unverbindlichen Lächeln.
„Ich möchte Frau Kleeblatt sprechen. Ist das möglich?“
„Schon passiert. Ich bin Esmeralda Kleeblatt.“
Elsterhorst erinnerte sich genau an die alte Frau im Rollstuhl und war etwas verunsichert. Sollte das dieselbe Frau sein?
Bevor er noch etwas sagen konnte, bat ihn die Frau in ihr Wohnzimmer, warf einen Stapel Kleider und Perücken von einem Sessel auf den Boden und bot ihm den freien Platz an.
Rinaldo schnupperte an ihrer Hand und warf ihr einen Blick unsäglicher Dankbarkeit zu, bevor er sich auf dem Bündel Kleider niederließ.
„Lassen sie ihn doch!“ sagte sie, als Elsterhorst an der Leine zog, „und nehmen Sie Platz. Ich muss das doch sicher quittieren! 100 Euro! Wie ausgemacht! Gestern habe ich nur 150 bekommen. Eigentlich müsste ich mehr verlangen. Denn mit einer Nacht im Krankenhaus hatte ich nicht gerechnet. Zahlt das eigentlich die Kasse?“
Elsterhorst zog seinen Ausweis heraus und hielt ihn ihr hin.
„Ein Kommissar? Sind sie echt oder ist das wieder so ein Stunt wie gestern?“
„Sie können sich gerne bei meiner Dienststelle erkundigen“, erwiderte er, obwohl er gerade das am wenigsten herbeigewünscht hätte.
„Elsterhorst! Komischer Name!“
„Kleeblatt ist auch nicht gerade üblich.“
„Aber angenehmer. Kleeblätter bringen Glück, während Elstern ....“
„Frau Kleeblatt, ist Ihnen klar, dass Sie gestern in Lebensgefahr waren?“
„In Lebensgefahr? Das sind wir doch ständig, wie Sie sicher wissen, Herr Kommissar. Das Leben endet meist tödlich!“
„Das ist kein Scherz. Der Mann wollte Sie umbringen!“
Es läutete. Esmeralda wollte schon zur Tür eilen, als Elsterhorst ihr den Weg versperrte. Auch Rinaldo hatte sich erhoben.
„Sie sollten nicht jedem die Tür öffnen.“
„Dann säßen Sie jetzt nicht hier und würden Schauermärchen erzählen. Das ist Tommy. Er bringt mir Sheila zurück.“
Nach einem kurzen Gespräch und lautem Lachen kam sie zurück mit einem Riesenspitz im Gefolge.
„Das ist Sheila. Mein einziger Luxus.“
Sheila hatte ein blaugraues Fell und goldbraune Augen. Sie schien an Besucher gewöhnt, denn sie streifte Elsterhorst nur mit einem gleichgültigen Blick. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Rinaldo. Und umgekehrt. Die beiden schienen sich auf Anhieb sympathisch zu sein. Anders als ihre Besitzer.
„Oh nein!“ murmelte Elsterhorst. „Nicht schon wieder ein Fall mit Hund!“
Esmeralda öffnete eine Terrassentür und nahm Rinaldo die Leine ab.
„Ab in den Garten!“ rief sie. Und zu Elsterhorst:
„Frisch verliebte Paare wollen unter sich sein. Was war das eben mit dem Mord?“
„Sie sollten das ernst nehmen, Frau Kleeblatt. Wie sind Sie überhaupt in diese Situation gekommen?“
„Es war keine Situation, wie Sie das nennen. Es war ein Stunt.“
„Ein was?“
„Ein Stunt! Eine Agentur hat mich angerufen, ob ich eine erkrankte Schauspielerin in dieser Szene vertreten könnte. Mann spritzt Frau zu Tode, um an das Erbe zu kommen. Sie boten 250 Euro für diesen kurzen Auftritt.“
„Und das haben Sie so ohne weiteres angenommen?“
„Natürlich! Ich habe kein Bombengehalt wie Sie und muss mit jedem Cent rechnen.“
Elsterhorst sah sich in dem großen, mit antiken Möbeln eingerichteten Raum um.
„Alles geerbt.“ Esmeralda kriegte offenbar alles mit. Elsterhorst wurde amtlich.
„Wie heißt die Agentur?“
„Moment.