Heute bekam er wieder mal, wie es seine Mutter immer bezeichnet hatte, „das arme Tier!“. Es regnete. Vermischt mit ersten Schneeflocken. Der Spätherbst zeigte sich nun von seiner grimmigen Seite. Die ach so goldenen Blätter, jetzt schlug es sie in den Matsch. Was sollte er anziehen? Den stockigen Mantel aus der Kleidersammlung vom letzten Jahr, inzwischen zwei Nummern zu groß? Die ausgelatschten Schuhe mit den Löchern in der Sohle? Hartz Vier - fürs arme Tier!
Odo Kratzmeyr war mal wieder auf dem Tiefpunkt angelangt. Wofür eigentlich noch leben? Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Die Künstlersozialversicherung - ach, wie toll hatte sich die Summe angehört, die er sich auf den Rat eines sogenannten Kapitalanlageberaters hatte auszahlen lassen! Investiert bei einer schweizer Bank! Was Sichereres gäbe es weltweit nicht! Und noch einen Fonds bei Lehman Brothers! Wenn die pleite gehen würden, hatte der Kapital-Fuzzy ihm in die Ohren geblasen, dann geht die ganze Welt pleite! Wie recht er doch hatte! Alles war weg! Alles! Und nun war Odo Kunde bei der „Tafel“, bei Caritas in der Kleiderkammer. Und dennoch: Es reichte einfach nicht. Er konnte nicht kochen, das hatte er nie gelernt, nicht mal Bratkartoffeln. Zweimal in der Woche ein Billigmenu im Wirtshaus - auch das reißt ein Loch ins Portemonnaie. Und nun noch die Kälte, die Nässe, der Regen, der auf das schräge Fenster in der Dachluke prasselte.
Odo Kratzmeyr war entschlossen, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Ins tiefe Treppenhaus runterspringen? Sich einfach zu weit übers Geländer beugen? Er würde den Hausbewohnern Arges zufügen. Vielleicht in voller Kleidung in den Eisbach springen, vorne am „Haus der Kunst“? Oder dort, wo die Surfer um Aufmerksamkeit buhlen? Sich auf die Mauer setzen und ab? Kopfsprung wäre das sicherste. Man schlägt auf und ist gleich bewusstlos.
So trippelte er durch den Englischen Garten, mutlos, ziellos, und sogar zu feige, um den letzten Schritt zu wagen. Genehmigte sich ab und zu einen Schluck aus einer letzten kleinen Wodkaflasche. Ein Hund, ein Wolfsspitz, raste auf ihn zu. „Der will nur spielen!“ rief eine Frau. Jetzt, bei diesem Wetter, waren ja nur noch Hundeliebhaber und Gesundheitsfanatiker unterwegs. Ach hätte er doch wenigstens einen Hund wie die Penner am Stachus, dachte er.
„Sheila! Sheila! Komm! Lass doch den Mann in Ruhe!“
Aber Sheila schnupperte an ihm rum, schaute zu ihm auf. Vielleicht verwechselte er ihn mit einem Bär, mit seinem Zottelbart und seinem ungebändigten, strähnig langen Haar. Einen Friseur hatte er sich schon monatelang nicht mehr geleistet.
„Ach lassen Sie doch! Wenigstens ein Hund, der sich für mich interessiert!“
„Odo?“ Die feine Dame richtete plötzlich ihr ganzes Augenmerk auf ihn. „Odo? Bist du es?“
Er erstarrte. Wer sollte ihn kennen? Wer sollte ihn erkennen? Diese etwas aufgetakelte, überschminkte Alte? So wie er aussah, war er doch für niemanden mehr zu erkennen?
„Odo Kratzmeyr? Der Kratzi? Ja, ist denn das die Möglichkeit? Odo, erkennst du mich nicht mehr? Esmeralda Kleeblatt! Dämmert es dir nicht?“
Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen! „Esmeralda? Du? Hier im Englischen Garten? Und du .... wie hast du mich erkannt? Esmeralda!“ Er wollte ihr um den Hals fallen. Aber so dreckig, nach Fusel stinkend, ungewaschen, unrasiert, da schreckte er doch im letzten Moment zurück.
„Ich habe deine Stimme erkannt! Die habe ich noch genau im Ohr!“
„Nun, Herr Wachtmeister?“ fragt Franziska .... und wie geht es weiter?
„Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, wenn ich wieder komme, soll ich auch geputzter kommen?
„Komm er, wie er will, Herr Wachtmeister; meine Augen werden nichts wider ihn haben. Aber meine Ohren werden desto mehr auf der Hut gegen ihn sein müssen!“
„Minna von Barnhelm! Siehst du, meine Ohren waren auf der Hut! Wann war’s? Hundert Jahre her? Dein Frauenzimmerchen, diese verschmitzte Tonlage, die werde ich nie vergessen!“
„Aber ich würde gern geputzter wiederkommen!“ Kratzmeyr schämte sich für sein Aussehen, jetzt, vor der Esmeralda, vor Franziska, vor dem Frauenzimmerchen.
„Odo, dir geht’s nicht gut, nicht wahr? Du bist in Not?“
„Kleeblättchen, ehrlich gesagt, mir geht’s beschissen. Und das ist noch kein Ausdruck!“
„Ich sehe es dir an, mein lieber Freund, Wachtmeisterchen! Ich glaube, es wird das Beste sein, ich nehme diesen Wachtmeister erstmal ins Schlafittchen und schleppe ihn zu mir ab.“
Und so geschah es. Dass sie sich nicht schon viel früher getroffen hatten, grenzte an ein Wunder. Sie wohnten ja kaum drei Straßenzüge von einander entfernt in Schwabing.
Es wurde ein vergnügter Abend. „Unverhofft kommt oft!“ dachte Kratzmeyr, als er sich durchgerungen hatte, Esmeralda, sein Kleeblättchen, darum zu bitten, bei ihr duschen zu dürfen.
Als er dann nach einer halben Stunde aus dem Badezimmer kam, die Haare und den Bart gewaschen und trocken geföhnt, sah er aus wie ein Waldschrat!
„Nein, Odo, weißt du, wie du aussiehst? Wie ein Guru! Wenn ich dir noch deine wunderbaren silbergrauen Haare in einen langen Zopf flechte, könntest du gut einen Geistheiler abgeben.“
Esmeralda kredenzte einen Dornfelder nach dem anderen. Sie schwelgten in Erinnerungen! Emilia Galotti! Nathan! “Weißt du noch ....?”
„Und was machst du jetzt!“
„Ich bin am Ende! Ich stecke ganz tief in der Sch....! Hartz IV! Essen von der Tafel! Kleidung von Caritas! Ich bin schon betteln gegangen, traue ich mich kaum zu gestehen! Und in der Lunge habe ich es wohl auch. Aber ich kann ja zu keinem Arzt gehen!“
„Das müssen wir ganz, ganz schnell ändern!“
„Wie willst du das ändern? Ich bin 73! Das Arbeitsamt hat mich längst ausgesteuert! Mit 73, wenn einer nicht Beamter ist oder sonstwie versorgt, dann landet man in der Gosse. Man ist der letzte Dreck!“
„Nicht mit Esmeralda Kleeblatt, mein lieber Kratzi! Ich habe da nämlich eine ganz, ganz tolle Idee. So einer wie du, für den weiß ich was. Bitte lach’ nicht, es ist keine Schnapsidee: Du musst in den Seniorenknast!“
„Kleeblättchen, du spinnst! Was soll denn das sein? In den waas?“
„Das ist eine Sonderstrafanstalt für alte Männer wie dich, zumal wenn sie nicht gesund sind! Wenn du da erstmal drin bist, hast du auf Staatskosten ausgesorgt für dein ganzes Leben: Vollpension, Krankenpflege, Psychotherapie, Fango und Massage, kreatives Schaffen, Feldenkrais, und du kannst dir noch was dazu verdienen für Zigaretten oder so! Ich habe da schon jemanden untergebracht!“
„Da muss man doch aber tüchtig was verbrochen haben! Kaufhausdiebstahl, Zechprellerei, Schwarzfahren, Tankstellenüberfall - das alles reicht ganz bestimmt nicht. Dafür kriegt man nur Bewährung. Da muss man schon jemanden umbringen!“
„Na ja, nicht so direkt, eher indirekt!“ Esmeralda schenkte ihm noch einen Dornfelder ein.
„Wie das?“
„Also ich sagte doch schon: Du siehst aus wie ein Guru! Wie ein indischer Geistheiler! Da liegst du voll im Trend! Wer geht zum Geistheiler? Die Verzweifelten! Die Austherapierten! Denen kein Arzt und keine Wunderklinik mehr helfen können. Die sterben sowieso! Homöopathie? Liegt auch im Trend, weil die Leute Angst haben vor der Chemie! Nichts hat geholfen, keine Pillen, keine Spritzen, nicht mal Globuli. Also letzte Ausfahrt: Geistheiler! Handauflegen! Das ganze Brimborium! Du musst natürlich einen anderen Namen bekommen, aber das bist du ja von der Schauspielerei gewöhnt. Warte mal, ich habe mal bei einem Kabarett mitgespielt. Da haben wir so einen Guru auftreten lassen, der hieß ....“
Esmeralda wühlte in einer Schublade. „Hier ist es, das Programm von damals, der hieß ‚Sir Sunray de