Alleine das Benehmen von Frank Gutschmidts kleinem Bruder war wieder eine Show der besonderen Güteklasse. Wenn dieser Typ nicht für seinen Bruder arbeiten würde, dann wäre eine Comedy-Show für ihn eine echte Berufung. Natürlich dürfte er nie erfahren, dass Kameras auf ihn gerichtet seien. Schließlich glaubte er wirklich das, was er erzählte. Das hätte seine ungewollte Komik mit Gewissheit nur gestört. Dieser Mann war einfach nur naiv.
Da wir ähnliche Situationen schon oft gemeinsam erlebt hatten, besaß ich das uneingeschränkte Mitgefühl meines Freundes. Ich erzählte ihm noch, dass ich mit Herrn Doktor noch bis in die späte Nacht bei Tisch gesessen und getrunken habe, sodass ich nun befürchtete, den armen Kerl über Gebühr vollgequatscht zu haben.
„Wo ist er eigentlich?“ fragte ich Klaus.
„Oh!“ Sagte er. „Laut Schubert ist er schon abgereist. Er hatte wohl private Dinge zu erledigen, die ihn für die nächsten Tage in Anspruch nehmen würden. Hättest du Schuberts wie immer extrem ausladende Begrüßungsrede gehört, dann wüsstest du es. Allerdings haben seine Ausschweifungen auch etwas Gutes. Als du rein kamst, hatte Burg gerade erst mit seinem Vortrag begonnen, sodass du nichts Wesentliches versäumt hast.“
Offensichtlich war es Klaus nicht bewusst, dass meine körperliche Anwesenheit nichts mit meiner Aufnahmebereitschaft zu tun hatte, und ich bereits vor der Pause Probleme mit dem Gewicht meiner Augenlider hatte. Aber das sollte ihn auch nicht interessieren, dachte ich mir. Schließlich hatten wir zu Beginn der Veranstaltung wieder die üblichen vier Aktenordner und Präsentationsmappen überreicht bekommen, sodass ich alles Wesentliche später nachlesen könne.
Den restlichen Tag verbrachte ich mit dem Versuch, mich auf die einzelnen Referenten zu konzentrieren und hätte vor lauter Dankbarkeit weinen können, als wir gegen 15.00 Uhr endlich in Richtung Heimat starten durften.
Klaus holte das Auto, während ich mich so lange wie möglich im Freien aufhalten wollte. Ich stand vor dem Hotel und beobachtete die dazugehörige Grünanlage. Selbst auf dem vor mir liegenden kurz geschnittenen Rasen fand man Platz, um darin den Namen des Hotels mit Blumen darzustellen. Ich versuchte jeder Fahne, die vor dem Haupteingang wehte, das dazugehörige Land zuzuordnen. Als ich immer noch darüber grübelte, welche Landesfarben das Leintuch zwischen England und Spanien zierte, forderte mich Klaus, der inzwischen mit dem Auto hinter mir auftauchte, zum Einsteigen auf.
Klaus schimpfte noch über die Höhe der von ihm gerade entrichteten Parkgebühr und dann fuhr los.
Mich beschäftigten inzwischen ganz andere Dinge.
Erst suchte ich im Handschuhfach vergebens nach einer Sonnenbrille, dann brachte ich meine Rückenlehne in eine möglichst angenehme Position und versuchte zwischen dem Lesen des Stadtplans und dem Erkennen der Wegweiser immer wieder meine Augen vor der viel zu grellen Sonne zu schützen. Klaus beabsichtigte noch in seinem Betrieb vorbeizuschauen, und ich sehnte mich nach dem Mineralwasser, welches in meinem Kühlschrank zu Hause auf mich wartete.
Anders als bei unserer Anreise vor drei Tagen, als wir krampfhaft nach dem Hotel suchten und uns die Zeit immer knapper wurde, erschien mir die Fahrt diesmal endlos. Vielleicht lag es aber auch nur an den vielen Pausen, zu denen ich Klaus immer wieder nötigte. Aus Angst um seine Sitzpolsterung gab er meinen Wünschen nur allzu gerne nach.
Endlich wieder in Berlin angekommen, setzte er mich zu Hause ab und rief mir noch durch die offene Tür nach, dass wir die nächsten Tage telefonieren, bevor ich diese hinter mir zuschlug, und er wieder Gas gab.
Es war schon fast Tradition, dass wir uns anstelle des üblichen < Tschüss > oder < Auf Wiedersehen > mit diesen Worten verabschiedeten. < Wir telefonieren >.
Es war inzwischen Mittwoch und ich beschloss, mich vor Freitag nicht in der Firma sehen zu lassen. In meiner zwei Zimmer umfassenden Wohnung angelangt, gab es für mich nur noch ein Ziel. Mein Bett!!!
Den kompletten Donnerstag verbrachte ich zu Hause. Die glorreichen Zeiten, in denen man drei Tage und drei Nächte lang feiern und trinken konnte, enden im Allgemeinen bei Erreichen der magischen Altersgrenze von 30 Jahren. Davor scheint alkoholbedingte Standfestigkeit zu einem gesell-schaftlichen Wettbewerb zu gehören, aus dem jeder als Sieger hervorgehen will.
Aufwachen ― Frühstück ― Fernsehen. Ich stellte fest, dass mir nie bewusst war, wie viele schwachsinnige Talkshows unsere Arbeitslosen täglich daran hindern, sich eine sinnvolle Tätigkeit zu suchen. Ich zappte von einem Sender zum anderen und amüsierte mich darüber, mit welcher Leidenschaft sich Menschen öffentlich bekriegen.
Auf dem Bildschirm erschien eine Frau, die ihren Mann wegen seiner schlechten Rasur und der davon ausgehenden Verletzungsgefahr vor den Augen der Kameras und somit auch vor den Augen aller Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger des Landes ohrfeigte. Das Publikum jubelte, ich ging in die Küche, um mir ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank zu holen.
Um 20.15 Uhr wurde es mir allerdings endgültig zu blöd. Big Brother, inzwischen die vierte Staffel, stand auf dem Programm. Ich hatte zwar schon viel über diese Show gehört, aber sie mir nie selbst angeschaut. Dies wäre auch nicht nötig gewesen, weil jeder meiner Mitarbeiter sie ebenfalls nie sah, aber alle jederzeit auf dem aktuellsten Stand waren und täglich lebhaft über die verschiedenen Charaktere diskutierten.
Also entschied ich mich etwas essen zu gehen. Schließlich konnte ich es mir nicht erlauben meine Zeit weiter zu vertrödeln. Freitag stand vor der Tür und ich hatte eine komplette Woche aufzuholen. Ich begab mich also zu Fuß in mein Lieblingsrestaurant, wo ich jedoch auf jeglichen Genuss von Alkohol verzichtete. Selbst den Schnaps, der kostenlos mit der Rechnung präsentiert wurde, ließ ich diesmal aus.
Endlich fand ich zu meiner alten körperlichen und geistigen Form zurück und stürzte mich in die Arbeit. Freitag, Samstag und sogar den Sonntagvormittag verbrachte ich im Büro.
Am Montag wollte ich nach dem morgendlichen Kaffee, der mir bereits von meinen Mitarbeitern eingegossen wurde, während ich noch mein Auto einparkte, und einigen Telefonaten gerade die Firma verlassen, als mich ein weiterer Telefonanruf daran hinderte.
„Guten Morgen“ hauchte mir eine liebreizende Frauenstimme ins Ohr. Es war Frau Wieland die Telefonistin aus der Zentrale am Potsdamer Platz. „Ich verbinde Sie mit Herrn Doktor Birnbaum. Einen kleinen Moment bitte.“
-------- Dann eine scheinbar endlose Pause. ----------
Ich kannte so ziemlich jede Wartemusik der meisten Telefonanlagen, welche uns Wartenden die Zeit vertreiben soll und zu denen ich mir leidenschaftlich gerne meine eigenen Texte ausdachte, die ich dann lautstark zum Besten gab. Und nicht immer schmeichelten diese Texte demjenigen, der mich gerade warten ließ. Im Gegenteil, je länger man mich warten ließ, desto bösartiger wurden meine Darbietungen. Und meine Kreativität war schier unerschöpflich. In Anbetracht der Tatsache allerdings, dass mich Herr Doktor persönlich anrief, fiel es mir zum ersten Mal schwer meinem erwarteten Gesprächspartner ein paar Strophen zu widmen. Also wartete ich diesmal schweigend bis kurz vor dem nächsten Refrain.
„Hallo, hier Birnbaum ich grüße Sie. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten, ich hatte noch ein Gespräch auf der anderen Leitung und Frau Wieland wählt immer schneller als erlaubt ist.“
„Was kann ich für Sie tun Herr Birnbaum?“ Fragte ich. Ich verzichte normalerweise auf den Doktor in der direkten Anrede. Eine Eigenart, für die ich mir zwar schon oft Schelte einhandeln musste, sie mir aber nie abgewöhnte.
„Nun“, sagte er „ich habe mir nach unserem Gespräch letzte Woche ein paar Gedanken gemacht und kam zu der Überzeugung, dass wir uns mal unterhalten sollten. Es geht dabei um ein paar grundsätzliche Fragen. Passt es Ihnen am Mittwoch um 9.00Uhr?“
Meine Gedanken rotierten. ‚Was will der von mir? Hast du es nun doch geschafft, dich endgültig in Misskredit zu bringen?’ Ich sammelte mich so schnell