„Der Sinn des Lebens“
Normalerweise ein Alarmsignal für alle, die mich besser kannten. Im Allgemeinen, genau der Moment, in dem der Gastgeber üblicherweise darauf wartete, dass seine Frau ihre flache Hand zum Mund führte, um Müdigkeit zu demonstrieren, während er behutsam aufstand, das Telefon aus der Halterung nahm und die Nummer vom Taxifunk wählte. Schließlich vergewisserte man sich noch meiner Absicht, mich nicht mehr selbst ans Steuer meines Autos zu setzen, bevor die Frau aufrief, dass das Taxi bereits wartete und mich mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete.
Es war fast immer dieselbe Prozedur. Es sei denn, ich fühlte mich gesundheitlich angeschlagen und verzichtete auf jeglichen Alkoholgenuss. Dann war ich meistens der erste Gast, der eine Party verließ, weil er mit den vielen Betrunkenen einfach keinen vernünftigen Gesprächsstoff mehr fand.
Die letzte Chance, mir ein Taxi zu rufen oder mich mindestens zu Bett zu schicken, hatte Herr Doktor anscheinend verpasst. Oder er wollte sie einfach nicht nutzen. Er saß da und hörte andächtig zu. Ich redete wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt wieder einmal, ohne das Bedürfnis zu empfinden Luft zu holen. Doch mein Gegenüber wurde, entgegen vieler anderen, mit denen ich ähnliche Gespräche führte, dessen einfach nicht überdrüssig.
Nein im Gegenteil, er saugte jedes Wort, das von meinen Lippen kam, förmlich auf, als ob ihn das, was ich von mir gab, tatsächlich interessierte.
Gut, meine ganz persönlichen Ansichten über das Sein, Gott, Raum und Materie, sind vielleicht eher ungewöhnlich. Und ob ich diese Ansichten tatsächlich in meinem damaligen Zustand noch formulieren konnte, entzieht sich meiner Erinnerung. Schließlich hatte meine Zunge bereits schon vor Stunden allen Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen versucht und über die gesundheitlichen Folgen, welche mich am nächsten Tage erwarten würde, wollte ich in diesem Moment einfach nicht nachdenken.
Ich glaube mich zu erinnern, dass ich aus Mitleid mehrfach versuchte das Gesprächsthema zu wechseln. Aber immer wurden diese Versuche mit einer gezielten Zwischenfrage zunichtegemacht, sodass ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, auf jemanden getroffen zu sein, der diese meine Auffassungen tatsächlich teilt. Endlich mal einer, der mich nicht dezent mit den Worten „vergiss mal deine Rede nicht“ brutal in ein anderes Thema zwängte.
Oder stand ich hier auf dem Prüfstand eines Mannes, der meine Qualifikation in Sachen Verkauf und Überzeugungskraft zu ermitteln versuchte?
Wenn ja, dann stand meine Zusammenarbeit mit dem Konzern auf sehr wackligen Füßen. Ein Verkaufsgespräch in diesem Zustand wäre bestimmt nicht das, was man von jemandem erwartete, den man gerade zwei Tage lang geschult hat.
Irgendwann muss ich dann doch noch den Weg in mein Hotelzimmer und in mein Bett gefunden haben. Denn dort fand ich mich am nächsten Morgen gegen 9.30 Uhr wieder.
Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass ich es anscheinend irgendwann in der Nacht geschafft hatte mich meiner Schuhe und meines Sakkos zu entledigen. Über den Rest meiner Kleidung möchte ich mich an dieser Stelle nicht äußern. ― 9.00 Uhr schoss es mir durch den Kopf.
Ich sah auf meinen Tagesplan.
Da stand es:
„9.00 Uhr Saal Alt-Berlin“
Programm:
Begrüßung durch Herrn Schubert Verkaufsleiter
Anschließend Referat von Herrn Burg über
Haftungsfragen und versicherungsrechtliche
Möglichkeiten zur Schadenbegrenzung.........
Inzwischen war es bereits 9.55 Uhr und die Aspirin, die ich vor 15 Minuten bestellt hatte, waren immer noch nicht eingetroffen. Ich brauchte der Dame an der Rezeption nicht einmal meine Zimmernummer zu nennen. Als ich sie ihr gerade mitteilen wollte, kam sie mir bereits zuvor. Hatte ich tatsächlich den Weg ins Hotelzimmer allein gefunden?
Auf dem Tisch stand immer noch mein aufgeklapptes Laptop, mit dessen Hilfe ich am Vortag, als es mir noch gut ging, meine Emails der letzten zwei Tage abrief.
Da ich mich in einem Konferenzhotel befand, brauchte ich diesmal nicht einmal mein Modem auszupacken, um es anstelle des Telefons mit der Anschlussdose zu verbinden. Jedes Zimmer verfügte über einen eigenen Internetanschluss, mit dessen Hilfe man sich direkt mit dem weltweiten Netz verbinden konnte. Ich hatte gleich nach dem Einchecken vor zwei Tagen die bereitliegende Anleitung eingehend studiert und die Möglichkeit nur zu gerne genutzt. Zumindest ersparte ich es mir, mich wieder an die für meinen Zustand viel zu komplizierte Arbeit zu machen, den Telefonanschluss wieder in Betrieb zu nehmen. Es gab eine Anschlusspauschale, die es erlaubte, ohne Zeitdruck online arbeiten zu können. Als sparsamer Mensch wählte ich den Dreitagestarif aus, der es mir gestattete während meines Aufenthalts, ohne Unterbrechung online zu bleiben.
Ein paar private Nachrichten löschte ich nach dem Lesen sofort wieder. Andere leitete ich an mein Büro weiter, wo meine Mitarbeiter wussten, was zu tun wäre. Weitere wurden mit ein paar Anweisungen versehen und ebenfalls an mein Büro geschickt.
An diesem Morgen stand die Kiste einfach nur da und surrte leise vor sich hin. Den Eingang eventueller Nachrichten zu kontrollieren, dessen war ich nicht fähig. Ich schaute nur kurz auf das Display, um festzustellen, dass Lesen, Schreiben und Verwalten nicht mit dem Hämmern in meinem Kopf in Einklang zu bringen waren.
Allerdings hämmerte es nicht nur in meinem Kopf, sondern auch an meiner Zimmertür.
In einem Anfall der Erleichterung riss ich dem Pagen die Kopfschmerztabletten aus der Hand und löste sie umgehend in meinem Zahnputzbecher auf.
Gegen 10.45 Uhr hatte ich endlich den Saal „Alt-Berlin“ erreicht und gehofft, dass niemand meine Verspätung bemerken würde.
― Falsch gedacht. ―
Der Saal war abgedunkelt und Herr Burg versuchte gerade die Buchstaben auf der Leinwand zu erkennen, welche ich mit dem Öffnen der Tür offensichtlich zu sehr aufhellte, als dass es ihm möglich gewesen wäre. Ich hätte vor Scham im Boden versinken können, als ich merkte, dass mich ca. 800 Augen musterten, um festzustellen, wer für diese Unterbrechung verantwortlich war. Also setze ich mich in die hinterste Reihe und versuchte mich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten.
Zum Glück wurde um 11.30 Uhr eine Kaffeepause anberaumt, sodass ich meine Gehirnzellen wieder mit Sauerstoff versorgen konnte.
Kaum hatten wir den Saal verlassen, kam Klaus zu mir, um mich über den Verlauf des Vorabends sowie meinen heutigen Zustand zu befragen.
Klaus war bereits seit acht Jahren für den Konzern tätig und derjenige, der mich vor drei Jahren unter seine Fittiche nahm, um mich auf meine damals noch neue Tätigkeit einzuschießen.
Inzwischen waren wir auch privat recht gut befreundet, sodass wir auch gemeinsam zu jeder beruflichen Veranstaltung anreisten. Den Fahrdienst teilten wir uns dabei gewissenhaft auf, sodass jeder von uns einmal der Chauffeur und das nächste Mal der Chauffierte war. Ich hätte Gott auf Knien danken können, dass diesmal Klaus mit dem Fahren an der Reihe war.
Er stand immer noch vor mir und schüttelte den Kopf. Die Mimik, mit der er in meine, wie ich vermute, stark geröteten Augen sah, enthielten eine Mischung aus Missachtung und Schadenfreude.
„Du siehst aus, als hättest du die komplette Nacht durchgesumpft.“ Schleuderte er mir vorwurfsvoll und gleichzeitig lächelnd entgegen, während ich mir mit zittriger Hand die bereits zweite Tasse Kaffee eingoss. Klaus hatte die Befürchtung, dass die von mir dazugegebene Kondensmilch bereits als Schlagsahne in der Tasse ankäme. Ich gebe zu, dass tatsächlich leichte Probleme mit der Feinmotorik zu erkennen waren.