Die Ausgestaltung des Raumes war ganz wesentlich von Chan beeinflußt worden, die mit viel Liebe zum Detail und Gespür für Schönheit und schlichte Eleganz dafür gesorgt hatte, daß dieser Raum auf jeden, der ihn betrat, sogleich eine Atmosphäre des Wohlgefühls, der Harmonie und Behaglichkeit ausstrahlte.
Qiang machte sich ein paar Notizen, studierte seinen Terminkalender und gab noch verschiedene Anweisungen an seinen Sekretär, dann trafen auch schon seine Vorstandskollegen ein. Es war ein kleines, international besetztes Team, bestehend aus der Deutschen Susanne Krämer, zuständig für Finanzen und Controlling, der Britin Deborah Brown, zuständig für Marketing and Sales, dem Niederländer Lothar van Steben, zuständig für das operative Geschäft, das heißt für Entwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung, der Französin Sandrine Marchal, zuständig für alle juristischen, administrativen und personellen Angelegenheiten, sowie ihm selbst, dem Chef, einem Chinesen. Qiang schätzte die Effektivität kleiner Führungsteams und flacher Hierarchien. Und die hohe Effizienz ihres Wirkens war der unbestrittenen Kompetenz der von ihm mit gutem Gespür ausgewählten Personen zu verdanken. Auch die vergleichsweise starke Repräsentanz von Frauen in seinem Team war mit Bedacht von ihm so gewählt, denn es war ihm hinreichend bekannt, daß gemischte Teams aus Männern und Frauen bessere Ideen entwickeln als gleichgeschlechtliche Gruppen – einfach schon deshalb, weil sie sich in ihren Fähigkeiten hervorragend ergänzen. Die sogenannten weiblichen Qualifikationen wie Team- und Dialogfähigkeit, emotionale Intelligenz und Organisationstalent sind in den von Männern dominierten Hierarchien früherer Zeiten meist zu kurz gekommen, häufig genug zum Nachteil der Unternehmen in Form von schlechtem Betriebsklima bis hin zu Frustration und dadurch bedingter Arbeitsunlust, mangelnder Bereitschaft zur Teamarbeit, häufigen „Hahnenkämpfen“ zwischen Konkurrenten auf der Karriereleiter und anderen negativen Begleiterscheinungen – letztlich resultierend in geringerer Rentabilität und geringerem Profit. Das alles war Qiang sehr bewußt, und deshalb legte er so einen gesteigerten Wert auf gemischte Teams, auf Teamarbeit generell und auf interdisziplinäre und internationale Zusammensetzung seiner Teams.
Natürlich können solche Stellenbesetzungen unter Umständen andere Probleme aufwerfen, die entsprechend beachtet und gegebenenfalls behutsam gelöst werden müssen. So war im Team von Qiang beispielsweise die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Kommunikationsregeln sowie der unterschiedlichen Glaubens- und Wertorientierungen, insbesondere zwischen der chinesischen und der westeuropäischen Kultur, für die interkulturelle Kommunikation von immenser Bedeutung für das Funktionieren einer guten, effektiven und effizienten Zusammenarbeit.
Es hatte in der Anfangszeit immer mal wieder das eine oder andere Verständigungsproblem gegeben, was niemanden wirklich verwunderte, weil keiner von ihnen die unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Interaktionsmuster per se beherrschte. Theoretisch hatten sich sicher alle vorher schon einmal mit dieser Problematik auseinandergesetzt, man lebte ja schließlich in einer „globalisierten“ Welt, aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich in der Literatur etwas anliest oder in der Praxis anwenden muß. Während Qiang durch seine frühen Auslandsaufenthalte mit der westlichen Kultur schon vergleichsweise gut vertraut schien, hatten seine – durch die Bank noch relativ jungen – europäischen Kollegen vorher wenig direkte Berührung mit der chinesischen Kultur. Lediglich Deborah, die schon einige Zeit in Shanghai gelebt und an der renommierten China Europe International Business School ihren Master of Business Administration gemacht hatte, beherrschte die chinesische Sprache hinreichend gut. Aber selbst innerhalb des westlichen Kulturraumes gab es ja trotz aller Ähnlichkeiten und Vereinheitlichungsbemühungen immer noch nennenswerte Unterschiede, die in den einzelnen Regionen sogar ausdrücklich gepflegt wurden. Nicht jeder verstand beispielsweise den trockenen und häufig derben englischen Humor. Und nicht jeder kam mit der übertriebenen Gründlichkeit der Deutschen zurecht. So mußten sie alle erst lernen, den anderen wirklich richtig zu verstehen, und zwar im täglichen Umgang miteinander – learning by doing, nannten sie das. So ein Lernprozeß brauchte naturgemäß einige Zeit. Aber Qiang hatte von Anfang an nachdrücklich dafür gesorgt und vorbildhaft vorgelebt – und damit hat er diesen Lernprozeß ganz sicher auch beschleunigt –, daß in seiner Firma eine offene, vertrauensvolle, sehr kollegiale Atmosphäre herrschte, in der der Teamorientierung und der Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wurde. Mißverständnisse und Fehler wurden offen angesprochen, aber nicht kritisiert, sondern gemeinsam ausgeräumt. Konfrontierende Äußerungen sollten unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb war er stets bemüht, eine harmonische Gesprächsatmosphäre zu schaffen, die einen aggressiven Gesprächsstil, wie er im Westen des öfteren gepflegt wurde, gar nicht erst aufkommen ließ.
Da man sich inzwischen seit der Firmengründung vor etwa fünf Jahren kannte und erfolgreich zusammenarbeitete, hatte jeder eine hinreichend starke Sensibilisierung für die unterschiedlichen kulturellen Prägungen und damit auch das notwendige Verständnis für die verschiedenen Kommunikations- und Verhaltensweisen der anderen erworben, um kulturelle Regelverletzungen zu vermeiden. Die europäischen Kollegen hatten mit der Zeit auch gelernt, „zwischen den Zeilen zu lesen“, das heißt, nichtverbale Mitteilungen, im situativen Kontext verborgene Informationen, „verschlüsselte“ Botschaften wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Das war notwendig für sie, um ihren Chef richtig zu verstehen. Denn obwohl Qiang stets sehr bemüht war, seine Interaktionsweise derjenigen seiner europäischen Kollegen anzupassen, passierte es ihm unwillkürlich doch immer mal wieder, sich in Andeutungen auszudrücken und seinen Zuhörern zu überlassen, das Unausgesprochene selbst zu interpretieren. Seine tiefe Verwurzelung in der chinesischen Kultur und Tradition ließ sich eben nicht so ohne weiteres ablegen, vielmehr prägte sie sein Denken und Handeln ganz selbstverständlich und automatisch. Für ihn war es Routine. Er hatte von klein auf ein feines sensorisches Gespür entwickelt und gelernt, Andeutungen, Unausgesprochenes und verschlüsselte Botschaften wahrzunehmen und zu interpretieren. Und gewöhnlich pflegte er, sich selbst normalerweise in der gleichen Weise auszudrücken. Die Zuhörer mußten deshalb nicht nur darauf achten, was er sagte, vielmehr mußten sie gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen, mußten also versuchen zu interpretieren, was er wohl tatsächlich gemeint haben könnte. Wenn er sich allerdings im Gespräch einem verdutzten oder verständnislos blickenden Gesicht gegenüber sah, dann erinnerte er sich aber immer gleich wieder und erläuterte bereitwillig seine Ausführungen.
Dem „Gesicht“ im Sinne der Gesichtswahrung wird im chinesischen Sozialverhalten übrigens eine ganz besondere Bedeutung, ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, und entsprechend schwer wiegt ein „Gesichtsverlust“, zum Beispiel als Folge von Verstößen gegen die von der Gesellschaft als verbindlich erachteten Werte und Normen oder auch nur von unerfüllten Erwartungen an seine Person. So ein Gesichtsverlust führt bei den Betroffenen in aller Regel zu großer Verlegenheit oder Schamgefühl und stört damit die nach Konfuzius geltenden Prinzipien für die zwischenmenschlichen Beziehungen, die vor allem der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie dienen sollen. Deshalb achten die Chinesen beim Reden wie im Handeln sehr darauf, niemanden leichtfertig zu beschämen, sondern bemühen sich vielmehr, ihnen „Gesicht zu geben“.
Die europäischen Kollegen hatten damit in der Regel ein Problem, denn ihr ganzes Reden und Handeln ist traditionell viel stärker durch selbstbewußtes, intellektuelle Überlegenheit ausstrahlendes Auftreten und durch eine gelegentlich sehr aggressive, unerbittlich fordernde Rhetorik geprägt. Sie konfrontieren