Chinesische Laternen beleuchteten den sich durch den Garten schlängelnden Weg, spiegelten sich auf der Wasseroberfläche von Teich und Bach silbrig-gelblich wider und luden den Betrachter zu romantisch verklärter Stimmung ein.
Nachdem sie so eine Weile, eng aneinander gekuschelt, träumend in den Garten geschaut hatten, unterbrach Chan die traute Zweisamkeit: „Mir wird allmählich kalt.“
„Es ist doch nicht kalt“, entgegnete Qiang, „es ist sogar sehr mild heute. Aber du bist wahrscheinlich sehr, sehr müde, sonst könntest du nicht in meinen Armen frieren.“
„Da magst du recht haben. Komm, laß uns wieder reingehen. Morgen ist auch noch ein Tag.“
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Robby schon auf sie wartete und fragen zu wollen schien, ob er die Nachrichten wieder einschalten sollte. Qiang nickte ihm kurz zu und prompt lief die Sendung. Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Und während Qiang die Bilder der Nachrichten verfolgte, kuschelte sie sich fest an ihn und schloß die Augen.
Nachdem er die Nachrichten zu Ende gesehen hatte und aufstehen wollte, bemerkte Qiang, daß seine Frau bereits schlief. Behutsam hob er sie auf und trug sie hoch zum Schlafzimmer im Obergeschoß.
„Danke“, murmelte Chan verschlafen, die unterwegs doch aufgewacht war.
Wenig später waren sie im Bett.
Qiang konnte nicht gleich einschlafen, ihm gingen noch so viele Gedanken durch den Kopf. Aber er fühlte sich behaglich wohl und zufrieden. Die Familie lebte nun seit etwa fünf Jahren in Deutschland und hatte sich seither bestens akklimatisiert. Sie fühlten sich wohl hier in Ulm, aufgenommen von der Gesellschaft, anerkannt und geachtet, ja geschätzt. Neben ihrer beruflichen Beanspruchung pflegten sie regelmäßige gesellschaftliche Kontakte. So waren insbesondere ihre ein- bis zweimaligen Einladungen pro Jahr an einen ausgewählten Kreis von Honoratioren der Stadt aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Lehre schon zur festen Regel geworden. Es waren von allen Beteiligten immer wieder sehr gern wahrgenommene Gelegenheiten der Kontaktpflege und des Informations- und Meinungsaustausches. Ja, und das aller wichtigste für ihn war natürlich die Tatsache, daß seine Geschäfte so erfolgreich liefen. Vor fünf Jahren hätte er das noch nicht einmal zu träumen gewagt, jetzt schlief er mit der Gewißheit darüber und einem seligen Lächeln ein.
Am nächsten Tag
Pünktlich um 6.00 Uhr erklang in den Schlafzimmern Musik, bei den Eltern Klaviermusik von Chopin, zart beginnend und dann langsam stärker werdend, bei den Kindern Modern Beat. Man hielt sich aber nicht lange auf dabei. Alle waren von früher Jugend an gewohnt, jeden Morgen, auch am Wochenende, regelmäßig zu dieser Zeit aufzustehen, und die Gewohnheit ließ sie inzwischen längst von allein erwachen. Es hätte eigentlich keines Weckers bedurft, aber mit der Gewißheit rechtzeitigen Gewecktwerdens ließ es sich eben doch irgendwie besser schlafen; man hatte dann nicht die Unruhe, vielleicht doch einmal zu verschlafen. Und ein bißchen angenehme Musik am Morgen war ja auch eine gute Einstimmung für den Tag. Alle kamen aus ihren Betten gekrochen, zogen sich einen Trainingsanzug über und gingen in den Garten.
Qiang und Chan pflegten von Kindheit an die seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Körperübungen des Tai Chi, und sie hatten es frühzeitig auch ihren eigenen Kindern weitervermittelt. Regelmäßig morgens gegen sechs Uhr ging die ganze Familie in den Garten, um gemeinsam ihre Entspannungsübungen zu machen. Es waren harmonische, fließende Bewegungen, die langsam und ohne Unterbrechung ausgeübt wurden, kombiniert mit einer bestimmten Atemtechnik und einer meditativen Konzentration auf bestimmte Körperregionen. Gemäß dem Prinzip von Yin und Yang ist jede Übung eine fortwährende Folge von Bewegung und Gegenbewegung: Auf Heben folgt Senken, auf Beugen folgt Strecken, auf Vorwärts- folgt Rückwärtsbewegung.
Nach etwa 40 Minuten beendeten sie ihre Übungen und gingen zum Duschen, und nach einer weiteren Viertelstunde saßen alle beisammen am Frühstückstisch.
Chinesen beginnen ihren Tag üblicherweise mit einem warmen Frühstück. Kaltes Essen ist für sie kein Essen. Dazu trinken sie entweder frisch aufgekochtes Wasser oder grünen Tee. Robby hatte bereits alles vorbereitet. Die Kinder aßen gern – so auch an diesem Morgen – gebratenes Gemüse mit Nudeln. Außerdem hatten sie sich ein paar süße Baozi, das sind gefüllte Klöße aus Hefeteig, bestellt. Es gibt nicht nur süße, sondern auch salzige Baozi, saure und sogar bittere, insgesamt mehr als 70 Varianten. Als Füllung wird Schweine-, Rind- oder Hammelfleisch, Krabben, Fisch und Gemüse aller Art verwendet. Sie sind sehr beliebt in China, man kann sie an fast jeder Straßenecke kaufen – chinesisches Fast Food. Sie werden gleich so, wie sie sind, das heißt ohne Soße oder ähnliches, von der Hand gegessen. Chan hatte sich Youtiao bei Robby bestellt, das sind fritierte Teigstangen, ähnlich den spanischen Churros, und dazu eine Art Crêpe, gefüllt mit Fleisch, Soja, Ei und Koriander. Qiang aß nur eine Schüssel Reissuppe, denn er mußte sich heute kurzfassen beim Frühstück, weil er bereits einen Besprechungstermin zu acht Uhr mit seinen Vorstandskollegen vereinbart hatte. Die neue Lage sollte besprochen, notwendige Maßnahmen mußten erörtert werden. Und dazu wollte er noch ein paar Dinge vorher vorbereiten.
Er wählte, wie gewöhnlich, den Runway, um zu seiner Firma zu kommen. Das war ökonomischer und ging sogar schneller, als wenn er seinen Wagen benutzt hätte. Diese Runways sind eine Art ‚Laufbänder‘ nach dem Prinzip der Rolltreppen, aber technisch verbessert und so breit, daß drei Leute bequem nebeneinander herlaufen können. Außerdem sind sie großzügig überdacht, so daß man sie auch bei Regen und Schneefall trockenen Fußes passieren kann, und des Nachts beleuchtet. Sie durchzogen die ganze Trabantensiedlung sternförmig, jeweils in Abschnitten von etwa 50 Meter Länge. In den vom Zentrum etwas entfernter gelegenen Bereichen gab es Querverbindungen. So wirkte die Gesamtanlage dieser Runways von oben betrachtet wie ein überdimensionales Spinnennetz.
Viertel vor acht war Qiang in seinem Büro, wo er von seinem Sekretär, natürlich auch ein Roboter, freundlich begrüßt wurde.
„Hallo Robby!“ grüßte er zurück. „Du weißt, daß wir gleich eine Besprechung haben?! Hast du uns ein paar Getränke hingestellt?“
„Ja, selbstverständlich! Alles erledigt!“ erwiderte Robby.
„Aber heute brauchen wir einen Prosecco zum Anstoßen. Es gibt was zu feiern!“
„Okay! Wird sofort erledigt!“
Qiang ging in sein Büro. Es war ein relativ großer, heller und unter Beachtung der Feng-Shui-Regeln sehr repräsentativ gestalteter Raum. Eine den neun Lebensbereichen des sogenannten Bagua entsprechende Gliederung und dezente Zuordnung verschiedener das Chi spendender, verstärkender und verteilender Hilfsmittel sowie weiterer im Raum verteilter Symbole und Accessoires sollten dafür sorgen, daß das Chi durch die Gesamtheit der in diesem Raum wirkenden Schwingungen positiv beeinflußt würde.
Eine breite Fensterfront ließ viel Licht herein. Das Mobiliar, eine Schrankwand, sein Schreibtisch, ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Sesselgruppe, waren großzügig im Raum verteilt. Ein großes Aquarium stand zwischen der Sessel- und der Tischgruppe. Aquarien gelten in China