Das Familiengeheimnis. Peter Beuthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Beuthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738093650
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im sozialen Miteinander, zur Kooperation bei ihren Beute­zügen, oder ganz allgemein ihre Verhaltensflexibilität.“

      „Und warum hat sich deren Intelligenz evolutionär nicht weiterentwickelt?“

      „Gute Frage. Offenbar sind bei denen einige wichtige Voraussetzungen dafür nicht gegeben gewesen.“

      „Als da wären?“

      „Nun, da ist zunächst einmal das Gehirn selbst – die Quelle der Intelligenz. Dessen Anato­mie, Größe und Masse, vor allem aber auch die Anzahl der Neuronen sind sehr unterschied­lich. Das menschliche Gehirn hat im Vergleich zu allen anderen Tierarten den mit Abstand höchs­ten Intelligenzgrad erreicht, das heißt, sein Aufbau ist im gegenwärtigen Entwicklungs­stadium optimal.“

      „Wieso diese Einschränkung?“

      „Wir können nur über den gegenwärtigen Entwicklungsstand sprechen, denn nur den kennen wir. Aber die Evolution geht ja weiter. Wir können also nicht ausschließen, daß es irgend­wann einmal noch intelligentere Lebewesen auf dieser Erde gibt. Das werden wir allerdings nicht mehr erleben.“

      „Wieso nicht?“ fragte Jie. „Du hast doch vorhin selbst gesagt, in der Evolution hat es schon öfter Sprünge gegeben.“

      „Ja, ja. Das ist schon richtig. Aber Sprünge in der Evolution spielen sich nicht in Tagen, Mona­ten oder Jahren ab, sondern in Hunderttausenden oder gar Millionen von Jahren. Nach unse­ren Erkenntnissen begann die rasante Entwicklung der Gehirne unserer Vorfahren vor etwa zwei Millionen Jahren und erreichte mit dem Homo sapiens vor etwa 100.000 Jahren die heute übliche Größe. Dieser sogenannte Entwicklungssprung vollzog sich also über einen Zeitraum von annähernd zwei Millionen Jahren! Aber im Zeit-Maßstab der Entste­hungsgeschichte unserer Erde seit über viereinhalb Milliarden Jahren ist es eben doch nur ein kurzer Moment.“

      „Immerhin hunderttausend Jahre! Da wäre doch mal wieder ein Entwicklungssprung ange­bracht, oder?“ flachste Jie.

      Long und Jiao lachten, und die Eltern mußten schmunzeln.

      „Um noch mal auf das Gehirn zurückzukommen“, nahm Chan ihren Faden wieder auf, „läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß es inzwischen weitgehend erforscht ist. Das mensch­liche Gehirn stellt demnach das gegenwärtige Optimum in der Entwicklungs­geschichte dar und wird deshalb als Maßstab in vergleichenden Untersuchungen an tie­rischen Gehirnen heran­ge­zogen. Nun haben wir ja vorhin gesagt, daß sich das menschliche Gehirn in den letzten zwei Millionen Jahren stark vergrößert hat. Dies allein kann aber nicht die Ursache für unsere höhere Intelligenz sein. Denn andernfalls müßten große Tiere wie Wale, Elefanten und selbst Pferde und Kühe intelligenter sein als der Mensch. Weder die absolute Hirngröße noch ihre Masse geben den Ausschlag für die Intelligenz. Und auch beim relativen Hirn­gewicht, also dem Verhältnis von Hirn- zu Körpermasse, schneidet der Mensch nicht besser ab als viele Tiere, sondern sogar schlechter als die Maus beispielsweise. Beim Vergleich der Anatomien hat man festgestellt, daß das menschliche Gehirn dem anderer Säugetierarten – und insbesondere dem der Menschenaffen – sehr ähnlich ist. Sie verfügen ebenfalls, wie der Mensch, über einen Neocortex, auch als Großhirnrinde bekannt, und einen präfrontalen Cortex. Beide zusammen bilden die stoffliche Grundlage und den Ort für all das, was wir unter Intelligenz, Vernunft, kognitiver Fähigkeiten, Handlungsplanung, Bewußtsein und Per­sön­lichkeit verstehen. Und beide sind bei einigen Säugern, wie Walen, Delphinen und Elefan­ten, größer als beim Menschen. Aber trotzdem kann deren Intelligenz bei weitem nicht mit unserer mithalten. Entscheidend für die Intelligenz sind also nicht Größe und Gewicht des Gehirns – weder absolut noch relativ –, sondern andere Kriterien. In Frage kämen bei­spiels­weise auch die Anzahl, Dichte und Vernetzung der Neuronen, die Zahl der Synapsen je Neuron sowie die Leistungsfähigkeit des Neuronennetzwerks. Aber auch hier unter­scheiden sich die anatomischen und physiologischen Eigenschaften des menschlichen Gehirns nicht wesentlich von denen der Wale, Delphine und Elefanten. So besitzt der Mensch rund 11,5 Milliarden Neuronen im Cortex, aber die genannten Tiere haben nur etwa eine halbe Milliarde weniger. Der Mensch hat rund 30.000 Synapsen je Neuron, die Tiere haben nur geringfügig weniger. Lediglich die Abstände zwischen den Neuronen sind bei den Tieren wegen ihrer größeren Gehirnabmessungen etwas größer, und damit dauern die Übertra­gungs­zeiten etwas länger. Aber das würde ja höchstens bedeuten, daß ihre Denkprozesse langsamer abliefen. Also, auch das ist keine Erklärung für die unterschiedliche Intelligenz. So bleibt als wirklich auffälliger relevanter Unterschied der Gehirne ein feinverästeltes Netzwerk im linken Stirnhirn – das sogenannte Broca-Sprachareal –, das in dieser Form nur bei dem Menschen vorkommt und ihm einen großen Wortschatz und eine Satzbildung mit kompli­zierter Grammatik ermög­licht. Und das legt den Schluß nahe, daß mit der Entwicklung der komplexen Sprache und der damit einhergehenden Herausbildung dieses Broca-Areals auch der Cortex insgesamt an Größe, Masse, Ausdifferenzierung und damit an komplexerer Ver­ar­bei­tungskapazität und Intel­li­genzvermögen gewonnen hat.“

      „Das hab’ ich doch vorhin schon gesagt!“ warf Jie ein. „Die saßen am Lagerfeuer und haben geklönt. Hab’ ich das nicht gesagt?“

      „Ja, ja. Das hast du gesagt – kleiner Klugscheißer!“ sagte Long etwas bissig. Dann wandte er sich seiner Mutter zu und fragte: „In der Schule habe ich mal gelernt, daß mit dem auf­rechten Gang ja die Hände gewissermaßen ‚frei’ wurden und somit immer mehr andere Tätig­keiten ausgeführt werden konnten – praktisch-handwerkliche und künstlerische. Auf die­se Weise verbesser­te sich ihre Feinmotorik, die immer höhere Anforderungen an die Intelli­genzleistung stellte. Also, kann die Steigerung der Intelligenz nicht auch dadurch bedingt gewesen sein? Immer­hin unter­scheidet sich der Mensch ja auch dadurch von allen Tieren, daß er seine Hände so viel­seitig einsetzen kann – auch gestalterisch, was sicher auch seine Kreativität gefördert hat.“

      „Das ist ein gutes Argument, Long“, antwortete Chan. „Ich kann mir gut vorstellen, daß es diesen Zusammenhang auch gegeben haben mag. Denn der praktische Gebrauch der Hände zur Herstellung und zum Gebrauch von Werkzeugen oder Waffen setzt natürlich schon eine ge­wisse Intelligenz voraus – und umgekehrt fördert es ganz sicher auch die intellektuelle Kapa­zität und die Kreativität. Auf der anderen Seite wird von den Forschern die Entwicklung der komplexen Sprache auf etwa 80.000 bis 100.000 Jahre zurückdatiert. Und das ist genau der Zeitraum, als der Homo sapiens mit seinem deutlich größeren Gehirn die Weltbühne betrat, während der aufrechte Gang und der Werkzeuggebrauch deutlich früher einsetzte. Wir haben ja vorhin schon erwähnt, daß der sogenannte Homo habilis vor rund zwei Millionen Jahren auftrat, und mit diesem begann bereits das Hirnwachstum. Also, dein Argument, Long, ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Aber ebenso offenkundig ist auch, daß die bis dahin schon beste­henden intellektuellen Fähigkeiten mit der Entwicklung der komplexen Sprache enorm gesteigert wurden.“

      „Also noch zu viele Vermutungen und zu wenig gesichertes Wissen!“ resümierte Long.

      „Na, ganz so würde ich das nicht sehen“, entgegnete Chan. „Wir wissen bereits sehr viel, aber es fehlen noch ein paar ‚Bausteine’ in der Beweiskette, um endgültige Gewißheit zu haben. So komplexe Entwicklungsvorgänge gehen ja normalerweise nicht einfach nur ‚straight ahead’ vor sich, wo immer schön seriell ein Baustein auf dem anderen aufbaut. Vielmehr ent­wickeln sich verschiedene Dinge parallel, und da ist es nicht immer einfach, Ursache und Wirkung klar zuzuordnen. Aber gerade weil es immer noch die eine oder andere Ungewiß­heit gibt, deshalb wollen wir ja versuchen, diese und andere Thesen durch Simulationen zu verifizieren.“

      „Na, da habt ihr euch ja was Schönes vorgenommen“, sagte Long mit einem Ausdruck von Be­wun­­derung und Zweifel zugleich.

      „Sicher! Es ist eine riesige Herausforderung!“ bestätigte Chan. „Aber das macht die Aufgabe ja gerade so interessant! Wenn es einfach wäre, dann könnte es ja jeder.“

      „Eine Aufgabe für Jahre, schätze ich!“

      „Sicher wird das eine ganze Weile in Anspruch nehmen. Aber Jahre? Wir sind noch bei der Abschätzung. Am meisten Zeit benötigen wir zunächst für die Modellierung der Welt vor etwa zwei Millionen bis 50.000