„Oh, dann will ich mir doch gleich einmal ´ne Ladung Omega-3-Fettsäuren reinziehen!“ rief Jie scherzend. „Wo kriege ich die her?“
„Fisch, mein Junge! Jede Menge Fisch!“ antwortete Chan lakonisch.
„Nur in Fisch?“
„Nicht nur in Fisch, sondern auch in Walnüssen, Kiwi und Leinsamen beispielsweise, aber hauptsächlich in Fisch! Und daraus resultiert die erwähnte These mancher Wissenschaftler, daß das verstärkte Wachstum des Gehirns bei den Hominiden mit deren Fähigkeit zum Fischfang einhergegangen sei.“
„Und? Glaubst du daran?“, wollte Long wissen.
„Nicht wirklich“, antwortete Chan. „Und mit Glauben ist hier sowieso nichts gewonnen. Unstrittig ist immerhin die Tatsache, daß die Zusammensetzung der Nahrung einen großen Einfluß auf unsere körperliche und geistige Entwicklung hat. Unstrittig ist auch, daß viele Botenstoffe im Gehirn aus einfachen Aminosäuren bestehen, die der Körper selber produzieren kann, solange eine ausreichende Grundnahrungsversorgung gegeben ist. Darüber hinaus aber gibt es eben auch andere Stoffe, wie beispielsweise Antioxidantien oder die Aminosäure Tryptophan, die der Mensch nicht selbst herstellen kann. Solche wichtigen Stoffe – Antioxidantien schützen die Synapsen vor schädlichen Zerfallsprozessen, und Tryptophan wird im Gehirn durch Enzyme in den bekannten Botenstoff Serotonin umgewandelt – müssen mit der Nahrung aufgenommen werden. Deshalb sind verschiedene Wissenschaftler davon überzeugt, daß man durch eine geeignete Zusammensetzung der Nahrung die kognitiven Fähigkeiten steigern, das Gehirn vor schädlichen Prozessen schützen und sogar dem Alterungsprozeß entgegenwirken kann. Nur fundiert beweisen läßt sich das leider nicht. Der Mensch ist schließlich kein Versuchskaninchen. Man kann ja nicht einer statistisch relevanten Personengruppe alle diese wichtigen Stoffe über einen längeren Zeitraum vorenthalten, nur um zu sehen, ob sich irgendwann vermehrt degenerative Prozesse einstellen. Für so einen Versuch würde sich niemand freiwillig hergeben – und mit Recht! Also gibt es keine abschließende Antwort.“
„Schade! Und was ist mit der anderen These? Mit dem Gekochten oder Gebratenen?“ wollte Jie von Qiang wissen.
„Ja, da ist die Argumentation wie folgt: Um 2.000 Kilokalorien zu sich zu nehmen, benötigt der Mensch eine Nahrungsmenge von entweder fünf Kilogramm rohe, vegetarische Kost oder drei Kilogramm rohe Mischkost mit einem Anteil von 250 Gramm rohem Fleisch oder 1,9 Kilogramm gekochte Mischkost mit einem Anteil von 100 Gramm Fleisch. Das heißt, mit gekochter Nahrung muß man also mengenmäßig weit weniger zu sich nehmen als mit Rohkost, denn durch das Kochen wird weiche, besser verdaubare und vor allem energiereiche Nahrung produziert. Gekochte Kartoffeln enthalten beispielsweise etwa 80 Prozent mehr verdaubare Kalorien als rohe. Und da das Gehirn einen großen Energiebedarf hat – bei einem erwachsenen Menschen verbraucht das Gehirn rund ein Viertel der Gesamtenergie, bei Neugeborenen sogar bis zu 60 Prozent –, war die erhöhte Energiezufuhr durch gekochte oder gebratene Nahrung für die Entwicklung unseres Denkorgans gewissermaßen eine notwendige Voraussetzung. Das Gehirnvolumen hat sich im Laufe der Evolution von etwa 0,38 Liter beim Australopithecus über 0,9 Liter beim Homo erectus bis auf 1,35 Liter beim Homo sapiens vergrößert.“
„Also kurz gesagt: Die Verbesserung der Nahrungsqualität hat die Vergrößerung des Gehirns und damit eine deutliche Steigerung der Intelligenz überhaupt erst möglich gemacht?“ resümierte Long.
„So die Hypothese, ja“, bestätigte Qiang.
„Und was hältst du davon?“ wollte Jiao wissen.
„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll. Bisher ist weder die Richtigkeit der Hypothese noch das Gegenteil nachgewiesen“, gab Qiang zu bedenken. „Das gleiche Problem wie vorher.“
„Und du, Mam? Was denkst du?“
„Ich weiß es genau so wenig wie alle anderen. . . . Ich könnte mir eventuell vorstellen, daß die erheblich verbesserte Nahrungsqualität eine notwendige Bedingung war – aber eine hinreichende?“
„Immerhin ist der Mensch, das einzige wirklich intelligente Lebewesen auf der Erde, auch das einzige, das gekochte Nahrung zu sich nimmt, während Fisch ja bekanntlich auch von anderen Tieren gefressen wird“, sagte Jie.
„Das ist richtig, ja“, entgegnete Chan. „Dennoch neige ich eher zu zweifeln, ob dies tatsächlich der alleinige Grund gewesen sein kann. Im übrigen ist dies ja auch kein Beweis. Es kann eine rein zufällige Koinzidenz sein.“
„Es wird ja auch vermutet, daß mit dem Kochen das gemeinsame Sitzen und Verzehren der warmen Mahlzeit an der Kochstelle begann und auf diese Weise zur Herausbildung eines gewissen Sozialgefüges führte“, sagte Qiang.
„Ah! Guter Gedanke!“ rief Jie spontan dazwischen. „Ich habe mal gehört, daß eigentlich die Sprache das entscheidende Kriterium für die Gehirnentwicklung gewesen sein soll. Deshalb könnte ich mir gut vorstellen, daß die am Lagerfeuer zusammengesessen und geklönt haben, und daß sich dabei mit der Vervollständigung der Sprache auch die Intelligenz verbessert hat. Dann wäre aber die Entwicklung der sprachlichen Verständigung das primär treibende Element für die Intelligenz, die warme Nahrung nur ein Sekundäreffekt.“
„Wieso Sekundäreffekt?“ fragte Jiao.
„Na, einfach weil die Verständigungsqualität nur verbessert werden konnte, wenn das Gehirn sich entsprechend mit entwickelte. Und dies konnte es durch die energiereichere warme Nahrung“, erläuterte Jie.
„Typisches Henne-Ei-Problem, scheint mir“, sagte Long. „Was war zuerst da: Der Drang zur Verständigung, also die Herausbildung von Sprache? Oder das bessere Essen und damit verbunden das Wachstum der Hirnmasse?“
„Also, ich weiß nicht“, gab Jiao ihrem Zweifel Ausdruck. „Kalorienreicheres Essen macht doch eigentlich nur dick. Wieso sollte denn dadurch plötzlich Intelligenz entstehen? Nach dieser Logik müßten ja alle Dicken besonders intelligent sein!“
„Der Einwand ist berechtigt“, bestätigte Chan. „Und er unterstützt meine Annahme von einer vielleicht notwendigen, aber sicher nicht hinreichenden Bedingung. Richtig ist jedenfalls die Tatsache, daß der Mensch sich von allen anderen Lebewesen durch seine Fähigkeit zur grammatisch-syntaktischen Sprache unterscheidet, während er seine intellektuellen Fähigkeiten zumindest partiell und in unterschiedlichem Maße mit anderen Tieren teilt. Insofern spricht vieles dafür, daß die enorm erhöhten intellektuellen Fähigkeiten des Menschen in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung der komplexen Sprache stehen.“
„Aber die intellektuellen Fähigkeiten bei Tieren sind doch in keiner Weise mit denen der Menschen zu vergleichen“, wandte Jiao ein.
„Das habe ich auch nicht behauptet“, entgegnete Chan. „Tatsache ist aber, daß es tierische Intelligenz gibt. Das haben viele Beobachtungen von Verhaltensforschern in freier Natur sowie zahlreiche Studien und Testreihen an ganz unterschiedlichen Tierarten – insbesondere Säugetiere und Vögel – unter Laborbedingungen nachgewiesen. Natürlich ist es nicht einfach, tierische Intelligenz zu messen. Denn da wir uns mit ihnen ja nicht unterhalten können, ist es schon beliebig schwierig, ihnen überhaupt mal eine Aufgabenstellung zu vermitteln. Und das Ergebnis kann auch wieder nur durch Interpretation ihres Reaktionsverhaltens gedeutet werden. Aber trotz aller Schwierigkeiten kam man zu dem klaren Ergebnis, daß es tierische Intelligenz gibt, die sich allerdings in ganz unterschiedlicher Weise äußern kann – und zwar nicht nur bei den Primaten, wie man anfangs glaubte, sondern auch bei ganz anderen Tierarten.“
„Bei welchen?“
„Bei den Meeressäugern, also den Delphinen und Walen, zum Beispiel. Bei Ratten, aber auch bei den Rabenvögeln, Eulen und Papageien.“
„Und wie äußert sich deren Intelligenz?“ wollte Jie wissen.
„Unterschiedlich.