Caro holt einen großen Spiegel und rollt ihn neben das Bett. Sie dreht mich auf den Rücken, bewegt meine Zehen, die Füße, die Beine.
»Noch mal«, sage ich und versuche mich auf den Bauch zu drehen.
Caro hilft mir, ich ziehe den linken Unterarm an, dann den rechten.
»Wir beginnen mit dem linken Bein.«
Gemeinsam gelingt es, das Bein anzuziehen. Ich liege auf den beiden Unterarmen und auf dem linken Knie.
»Achtung und jetzt das Rechte.«
Ich drehe den Kopf, sehe mich im Spiegel. Caro biegt das rechte Bein ab, dann zieht sie es nach vorne. Ich versuche mitzuhelfen kann aber nicht, weil ich das Bein nicht spüre. Caro schiebt, zerrt, schiebt, zerrt, schiebt und zerrt. Ich sehe im Spiegel, dass das Bein schließlich parallel zum linken liegt. Ich sehe mich, aufgestützt auf den Unterarmen, den Knien und den Unterschenkeln. Oberkörper und Bauch sind parallel zum Bett, Oberarme und Oberschenkel stehen im rechten Winkel zum Bett.
»Na bitte,« sage ich triumphierend, drehe den Kopf so, dass ich nach vorne schaue, und falle sofort wieder um.
»Das gibt es doch nicht«, schreie ich verzweifelt.
»Wo hapert´s?«
»In dem Moment, in dem ich nach vorne schaue, glaube ich, dass der Körper total nach rechts hängt, will nach links ausgleichen und falle um.«
»Das gestörte Gleichgewicht werden Sie länger haben, wahrscheinlich wird das aber besser. Nur Geduld. Wir haben noch etwas Zeit, wollen Sie es noch einmal probieren?«
»Na klar. Aber, bitte, stellen Sie den Spiegel diesmal vorne hin.«
Caro rollt den Spiegel vor das Bett. Die Prozedur beginnt von Neuem. Schließlich stehe ich wieder auf allen Vieren.
»Ich lasse Sie jetzt aus.«
»Okay«, sage ich, hebe vorsichtig den Kopf und schaue in den Spiegel. Ich sehe, dass Caro ihre Hände von meiner Hüfte nimmt. Sofort habe ich das Gefühl nach rechts zu kippen, sehe aber, dass mein Körper gerade bleibt, und kann den Impuls, mich als Ausgleich nach links kippen zu lassen, unterdrücken.
»Jetzt aber,« sage ich glücklich.
»Super. Versuchen Sie jetzt einmal das Gewicht, aber ganz vorsichtig und nur ein bisschen, zu einer Seite zu verlagern. Schauen Sie aber weiter in den Spiegel.«
Ich bewege mich etwas nach links, etwas nach rechts. Es geht problemlos. Ich werde übermütig, mache versuchsweise die Augen zu, reiße sie aber sofort wieder auf. Mit offenen Augen kann ich das Gewicht verlagern, kaum sind die Augen zu, verliere ich sofort die Orientierung.
»Wollen Sie sich selbst niederlegen, oder soll ich helfen?«
»Ich mache es selbst, ich glaube, ich habe da einen Trick gefunden«, sage ich, schließe die Augen und falle wie vom Blitz getroffen um.
»So war es aber nicht geplant«, sagt Caro erschrocken.
»Von mir schon«, lache ich erschöpft.
Auf dem Weg ins Zimmer sehe ich auf dem Gang einen Polizisten mit einer Patientin an einem Tisch sitzen. Am Nachmittag frage ich Julia, ob sie schon etwas wegen des Unfalls weiß. Sie sagt, dass sie am Vormittag mit dem Anwalt gesprochen hat. Es gibt noch kein Polizeiprotokoll, daher gibt es auch keine Verhandlung. Es ist alles in Schwebe, der Anwalt ist aber guter Dinge.
Ich bekomme Post. Ein Freund aus der Schweiz schickt mir ein Paket mit dem Hinweis »Was der kann, kannst du doch auch!«
Ich öffne das Paket, sehe ein Buch »Unterwegs in die nächste Dimension: Meine Reise zu Heilern und Schamanen« von Clemens Kuby.
›Schamanen und Heiler, na ja, wer es glaubt‹, ich jedenfalls nicht.
Trotzdem beginne ich, das Buch sofort zu lesen. Kubys Auseinandersetzung mit dem Thema Heilung begann bereits vor zwanzig Jahren, als ihn nach einem Sturz von einem Dach eine Querschnittslähmung zwang, sein Leben völlig neu zu betrachten. Die erste Diagnose ist: keine Chance auf Erholung. Seine erste bewusste Tat nach der Operation: Er reicht die Scheidung ein. Eigentlich will ich da bereits das Buch weglegen, lese aber dann trotzdem weiter.
Sehr offen und persönlich beschreibt Kuby, wie es ihm gelang – körperlich und psychisch auf dem Nullpunkt – im Dialog mit der Seele, die Selbstheilungskräfte so zu aktivieren, dass sich die Lähmung zurückbildete und die Ärzte von einem Wunder sprachen.
Das ist dann schon wieder eher etwas womit ich mich identifizieren kann. Mir fallen die kleinen Baggerfahrer und Schaufler ein, die sich um meine Rückenmarksnerven kümmerten.
Weiter im Buch. Für ein Filmprojekt reiste der Dokumentarfilmer nach seiner - von den Ärzten als Wunder betrachteten Heilung - zwei Jahre lang rund um die Welt zu den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen, begegnete zahlreichen Heilern und Schamanen und recherchierte Phänomene des Heilens, die uns normalerweise verborgen bleiben.
›Hmmm ...‹
Noch bin ich nicht so weit, dass ich an Wunderheiler und Schamanen glaube. Ich halte mich lieber an den Gedanken der Selbstheilung und glaube mehr an Ärzte, Therapeuten und Therapeutinnen. Ich habe das Gefühl, dass ich hier im Reha-Zentrum in besseren Händen bin als in irgendeiner Bambushütte im Dschungel.
Am nächsten Tag werde ich zur Sozialberatung gebeten. Nach dem üblichen »Wie geht es Ihnen«, »Noch rolle ich, vielen Dank«, fragt mich die Beraterin, ob ich nicht einen Pensionsantrag wegen Berufsunfähigkeit stellen will.
»Warum?«
»Weil Sie wahrscheinlich nicht mehr arbeiten werden können.«
»Ganz sicher werde ich können«, antworte ich bestimmt.
Sie sagt, ich soll es mir überlegen, ich erwidere, da gibt es nichts zu überlegen, rolle aus dem Zimmer und fahre zur nächsten Therapie.
Marietta hilft mir wieder ins Stehpult. Sie rollt den Spiegel vor mich hin. Ich sehe mich am Boden stehen und plötzlich spüre ich auch das Gewicht meines Körpers. Ich spüre es zwar nur an der linken Fußsohle, aber immerhin. Bewusst verlagere ich mein Gewicht auf das rechte Bein. Weit komme ich nicht, weil ich ja durch die Metallstangen eingeschränkt bin. Und da, plötzlich, spüre ich mich auch auf dem rechten Bein.
Gewicht nach links, Kontrolle im Spiegel, Gewicht nach rechts, links, rechts. Ich spüre mich, New York, ich komme.
»Warum lachen Sie?« fragt mich Marietta.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich gelacht habe und sage: »Weil ich mit beiden Beinen auf dem Boden stehe und es noch dazu spüre.«
Voller Freude beginne ich zu experimentieren. Ich hebe die linke Hand von der Auflage, dann die rechte. Ich kippe sofort nach hinten, werde aber von der Platte hinter meinem Gesäß gehalten. Ich lege meine Hände wieder auf das Pult, ziehe mich nach vorne, stehe wieder gerade. Wieder hebe ich die Hände, vorsichtig, langsam, mit Konzentration. Ich stehe gerade und ohne dass ich irgendwo anstoße. Ein paar Sekunden gelingt es, dann kippe ich nach hinten weg. Jetzt weiß ich aber, wie es geht, ich starte sofort wieder einen neuen Versuch. Ich stehe länger, länger und noch länger. Ich strecke die linke Hand nach vorne, dann die rechte. Die linke nach links, die rechte nach rechts. Ich stehe. Ich strecke beide Hände nach oben und kippe sofort nach hinten. Noch einmal, diesmal langsamer. Ich stehe, beide Hände sind nach oben gestreckt, ich sehe mich im Spiegel. Langsam nehme ich die Arme nach unten, bewege sie nach hinten. Ich spüre wie sich meine Finger hinter meinem Rücken berühren. Ich nehme die Hände wieder nach vorne und muss mich auf dem Pult aufstützen. Ich bin völlig erschöpft, aber glücklich.
»Heute beginnen wir mit der Vojta Therapie.«
»Was ist das?« frage ich Caro.
»Bei der Vojta-Therapie werden beim Patienten in bestimmten Ausgangsstellungen und durch Druck