Ich ziehe mit der linken Hand den Bund der Hose weg. Tatsächlich, meine Hoden sind eingeklemmt, nur der Penis ist zu sehen. Ich greife mit der rechten Hand nach unten, kann aber die Hoden nicht greifen. Ich versuche, die Oberschenkel zu spreizen, sie bewegen sich keinen Zentimeter. Ich klemme meine rechte Hand zwischen die Oberschenkel und versuche mit einer Drehung der Hand die Schenkel auseinanderzudrücken. Keine Chance.
»Es geht nicht«, sagt Berthold.
»Noch nicht«, sage ich und ziehe die rechte Hand wieder hoch.
Berthold greift in meine Hose, drückt den rechten Oberschenkel etwas zur Seite und hebt meine Hoden hoch.
Zwischen den Therapien kommt Pflegerin Ulrike, sie will mich abwiegen. Ich rutsche wieder aus dem Bett, es geht schon besser. Mir fällt der EKG ein, ich überlege, ob er wirklich notwendig ist. Dann fällt mir Bernhards »Es ist mein Job« ein und ich frage Ulrike, ob sie den EKG machen kann.
»Selbstverständlich«, sagt sie, nimmt wie selbstverständlich die auch diesmal eingeklemmten Hoden und hebt sie hoch. Ich beschließe, dass ich meiner Frau nicht jede Einzelheit der Rehabilitation sagen werde. Wir fahren mit dem Rollstuhl auf eine Waage, der Zeiger springt auf 82,2 Kilo.
»Fast mein Idealgewicht.«
»Wir müssen noch die 15 Kilo, die der Rollstuhl hat, abziehen«, sagt Ulrike, »das sind dann rund 67 Kilo.«
»Das kann nicht stimmen, ich habe vor dem Unfall 83 Kilo gehabt, ich kann nicht in drei Wochen 16 Kilo abnehmen.«
»Wenn Sie wirklich 83 Kilo gehabt haben, dann haben Sie aber jetzt 16 Kilo weniger.«
»Unmöglich, ich war voll im Training, ich war sicher nicht fett, ich kann nicht so viel abgenommen haben.«
»Sie haben die Waage selbst gesehen. Sie haben sicher auch kein Fett, sondern Muskelmasse verloren. Ein Muskel, der nicht beansprucht wird, beginnt sich nach 48 Stunden zurückzubilden. Und Sie sind seit dem Unfall nur gelegen.«
Ich bin fassungslos.
Ich finde einen neuen Eintrag auf meinem Therapieplan, 10:00 bis 10:30, Stehpult. Ich fahre zur Physiotherapie. Das Stehpult ist ein Gerät aus Metallstangen, die ungefähr zwei Zentimeter Durchmesser haben. Auf zirka ein Meter 40 Höhe ist waagrecht eine gepolsterte Platte wie bei einem Rednerpult angebracht, auf Höhe des Gesäßes ist eine ebenfalls gepolsterte Platte, im rechten Winkel, also senkrecht, zur anderen. Sie ist an einem Scharnier befestigt und zur Seite geklappt.
Marietta, eine Physiotherapeutin, sie ist fast so groß wie ich, blond und genauso austrainiert wie ich noch vor einem Monat, klappt die Fußauflagen des Rollstuhls zur Seite, nimmt mich unter den Achseln, hebt mich hoch und sagt mir, dass ich mich mit den Händen auf das Pult stützen soll. Ich lege die Unterarme auf das Pult, blitzartig klappt sie die seitliche Platte hinter mein Gesäß und lässt eine Schnalle aus Metall, ähnlich wie bei einem Sicherheitsgurt im Auto, in ein Schloss einrasten. Ich stehe gebückt nach vorne gebeugt, aufgestützt auf den Unterarmen im Stehpult, kann nicht nach vorne fallen, weil da die Auflage für die Hände ist. Seitlich verhindern die Metallstangen ein Umfallen, von hinten sichert die Platte, die hinter meinem Gesäß befestigt ist.
»Wir fangen langsam an, versuchen Sie einmal, ob Sie fünf Minuten stehen können«, sagt Marietta. »Richten Sie sich langsam auf und versuchen Sie, ohne dass Sie sich abstützen, zu stehen. Wenn Ihnen schlecht wird, oder wenn Sie Probleme mit dem Kreislauf bekommen, sagen Sie bitte sofort Bescheid.«
Ich versuche mich gerade zu richten, ziehe die Hände etwas zurück, hebe den Oberkörper, bis ich senkrecht stehe. Langsam, langsam. Wird mir schlecht? Nein, noch ein Stück, alles in Ordnung, jetzt noch den Oberkörper etwas hoch, die Handballen auf das Pult, ein letztes Stück noch den Oberkörper in die Senkrechte, ich stehe. Ich stehe das erste Mal seit dem Unfall auf eigenen Beinen. ICH STEHE AUF EIGENEN BEINEN! Ich werde das Reha-Zentrum auf eigenen Beinen und im aufrechten Gang verlassen!
»Ich stehe«, sage ich zu Marietta.
»Schreien Sie nicht so laut, ich sehe es ja eh«, lächelt sie.
Ich sage es nochmal, diesmal ganz leise und andächtig: »Ich stehe.«
Ich sehe die Welt zum ersten Mal seit fast einem Monat, wie ich es mein Leben lang gewohnt war. Es ist verblüffend, wie man im Stehen, aus einer Höhe von 1,85 Meter, ein ganz anderes Sehgefühl als im Sitzen hat. Ich fühle mich wie auf dem Ausguck eines Schiffes.
Nach der ersten Euphorie merke ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich stehe nicht wirklich, ich spüre keinen Druck, kein Gewicht auf den Fußsohlen, ich habe keinen Kontakt zum Boden. Ich schaue nach unten, kann aber meine Zehen nicht sehen, weil die Auflagefläche im Weg ist.
»Kann ich bitte einen Spiegel haben?« frage ich Marietta.
Sie rollt einen ungefähr zwei Meter hohen und einen Meter breiten Spiegel vor mich. Ich sehe mich von der Seite im Spiegel auftauchen und schaue nach unten. Ich sehe beide Füße auf dem Boden stehen, spüre aber trotzdem mein Gewicht nicht. Sofort wird mir schwindlig. Ich schaue nach oben, mir selbst ins Gesicht. Das Schwindelgefühl vergeht. Ich blicke vorsichtig wieder nach unten, beide Schuhe stehen am Fußboden. Das gibt es nicht, ich sehe, dass ich fest am Boden stehe, warum spüre ich es nicht? Augenblicklich wird mir wieder schlecht. Krampfhaft schaue ich nach oben, prompt habe ich das Gefühl ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben,
»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass. Wollen Sie sich wieder niedersetzen?«
»Nein«, krächze ich, »alles in Ordnung.«
Am liebsten würde ich mein ganzes Leben stehenbleiben, egal ob ich schwebe oder nicht, egal ob mir schlecht ist oder nicht.
Im Anschluss fahre ich einen Raum weiter zu Caro. Ich wechsle wieder aufs Bett, liege auf dem Rücken.
»Heute will ich den Vierfüßler probieren.«
Ich schaue Caro fragend an.
»Sie stützen sich auf die Unterarme und auf die Unterschenkel. Brust, Bauch und Oberschenkel sind in der Höhe. Geht das?«
»Alles geht«, sage ich und probiere mich auf den Bauch zu drehen. »Ähhh, vielleicht können Sie mir ein bisschen helfen«, bitte ich sie nach ein paar vergeblichen Versuchen.
Caro nimmt mich bei der rechten Achsel und Hüfte und dreht mich auf den Bauch. Ich stütze mich auf den rechten Unterarm, ziehe dann den linken nach und hebe meinen Oberkörper versuchsweise hoch. Der Rücken schmerzt etwas mehr als üblich, aber ich kann die Brust und den Bauch etwas vom Bett abheben. Ich versuche, das linke Bein anzuziehen. Ich probiere, versuche, bemühe und strenge mich an, egal, was ich mache, das linke Knie bewegt sich nicht.
Caro hebt meine Hüfte etwas hoch, ich starte einen neuen Versuch. Das linke Bein knickt im Knie ab, ich kann es etwas nach vorne ziehen. Caro nimmt mit einer Hand den Oberschenkel, zieht an und das linke Bein bildet einen rechten Winkel.
»Jetzt das rechte«, sagt Caro. »Ich hebe Sie wieder etwas hoch.«
Ich ziehe das rechte Bein an, versuche es parallel zum linken zu bekommen.
»Ist es schon oben?«
»Sie müssen es schon anziehen«, sagt Caro.
»Habe ich doch.«
»Es hat sich keinen Millimeter bewegt.«
»Da hab ich jetzt ein Problem. Ich spüre das Bein nämlich nicht. Ich hätte schwören können, dass ich es angezogen habe.«
»Wir machen es wieder zu zweit.«
Caro nimmt meine Hüfte fester und hebt sie hoch.
»Versuchen Sie mit mir gemeinsam das Bein anzuziehen. Geht das?«
»Alles geht«, schnaufe ich und falle reaktionslos um.
»Was war das?« lacht Caro.
»Umgefallen bin ich«, sage ich und keuche wie