›Sie muss mit Stefan Raab verwandt sein, sie sagt mindestens so oft wie er ›ja‹, denke ich. ›Einmal noch ›ja‹ und ich schreie‹, »Okay. Heute, ausnahmsweise. Morgen gehe ich alleine«, sage ich.
Ich bin mit dem Videoschnitt fertig. Am Nachmittag wird Julia kommen, den Laptop mitnehmen und damit ins Tonstudio zur Sprachaufnahme und zur Tonmischung fahren. Es ist ein gutes Gefühl. Ich bitte Wolfram den Laptop wie jeden Tag, bevor ich das Zimmer verlasse, in den Kasten zu geben. Er nimmt den Sony, stellt ihn in den Kasten und will meinen Schlüssel, damit er absperren kann.
»Ich will selbst abschließen.«
»Sind Sie sicher?« fragt er zweifelnd.
»Eine Minute«, sage ich, »wetten wir?«
»Wetten tu ich nicht, aber wenn Sie wollen, probieren Sie es.«
Ich rutsche vom Bett in den Rollstuhl, rolle zum Kasten, wechsle beim Handy auf Stoppuhr Modus und drücke auf die Starttaste. Der Schlüssel ist mit einem Karabiner an einem ungefähr einem Zentimeter breiten Band befestigt, das ich um den Hals hängen habe. Ich ziehe das Band über den Kopf und beuge mich nach vorne, damit ich näher zum Kasten komme.
»Das Band würde ich nicht runter nehmen.«
»Warum«, frage ich und bekomme im nächsten Moment die Antwort.
»Soll ich Ihnen den Schlüssel aufheben?«
»Nein, das kann ich selbst, danke.«
Ich beuge mich im Rollstuhl etwas zur Seite und merke, dass ich in einem ungünstigen Winkel zum Schlüssel stehe. Ich rolle etwas zur Seite, beuge mich nach rechts unten und kann tatsächlich das Band mit dem Zeigefinger der rechten Hand berühren. Was ich nicht kann, ist, das Band zu nehmen. Ich kann die Finger nicht um das Band schließen. Ich rolle mit dem Rollstuhl auf die andere Seite des Schlüssels und starte einen neuen Versuch mit der linken Hand. Jetzt kann ich das Band mit Daumen und Zeigefinger greifen, na also, hebe es hoch und lasse es fallen. Ich kann zwar mittlerweile Buchseiten umblättern, habe aber immer noch zu wenig Kraft in den Fingern um einen ungefähr zwei Zentimeter langen Schlüssel hoch zu heben.
»Quälen Sie sich nicht, ich hebe ihn auf.«
»Sicher nicht«, knurre ich.
Ich sehe, dass das Band nicht zur Gänze auf dem Fußboden aufliegt, manche Windungen stehen etwas vom Boden ab. Plan B. Wieder beuge ich mich nach unten. Diesmal nehme ich das Band nicht zwischen die Finger, sondern schiebe den Zeigefinger an einer Stelle, die etwas Abstand vom Boden hat, unter das Band. Ich biege den Zeigefinger etwas ab und hebe das Band mit dem Schlüssel vorsichtig hoch. Es gelingt, ich nehme die rechte Hand zu Hilfe und hänge mir den Schlüssel wieder um den Hals.
»Sie sind, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein ziemlich sturer Hund«, sagt Wolfram.
»Deswegen werde ich auch nicht im Rollstuhl bleiben, sondern im November in New York rennen«, sage ich und versuche ihm nicht zu zeigen, wie sehr ich vor Anstrengung keuche.
Ich nehme den Schlüssel, wie Jahrzehnte lang gewohnt, zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und versuche ihn in das Schloss des Kastens zu stecken. Die rechte Hand zittert so, dass ich das Schloss nicht treffe. Ich lehne mich im Rollstuhl zurück und atme ein paar Mal tief durch. Dann starte ich einen neuen Versuch. Ich treffe zwar das Schloss, nur verlässt mich die Kraft in den Fingern, der Schlüssel rutscht nach unten wie in der Intensivstation das Blatt Papier. Ich beiße auf die Unterlippe, um nicht vor Frust loszuschreien. Ein paar Sekunden später nehme ihn mit der linken Hand. Nach ein paar Versuchen gebe ich auf.
»Soll ich es nicht doch machen?«
Ich bin nicht sicher, ob mich Wolfram innerlich auslacht oder ob er mich bedauert. Beides wäre schlimm genug.
»Nein, ich kann das, zur Not lasse ich das Abendessen aus. Es kann nicht sein, dass ein blödes Kastenschloss stärker ist als ich. Ich bin nur etwas ungeschickt mit der linken Hand, mit der kann ich normalerweise nicht einmal Nasenbohren.«
Ich klemme den Schlüssel zwischen die Daumen der linken und der rechten Hand und bewege den Schlüssel Richtung Kastenschloss. Tatsächlich treffe ich die Öffnung, versuche den Schlüssel ins Schloss zu drücken, er rutscht zwischen meinen beiden Daumen durch und hängt wieder am Band um meinen Hals.
»Ich muss jetzt gehen«, sagt Wolfram.
»Gehen Sie nur, ich kann das schon selbst.«
Ich starte einen neuen Versuch mit der rechten Hand, zittere aber zu sehr um das Schloss zu treffen. Ich bin nicht sicher, ob ich vor Erschöpfung oder vor Wut zittere. Dann habe ich eine Idee. Ich nehme den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand und nehme zur Stabilisierung das linke Handgelenk mit der rechten Hand. Tatsächlich, ich treffe das Schloss und habe in der linken Hand genug Kraft um den Schlüssel auch ins Schloss stecken zu können. Geschafft! Jetzt muss ich nur noch den Schlüssel umdrehen, um abzuschließen. Ungefähr zwei Minuten später ist mir eines klar: Ich hasse Sätze, in denen das Wort »nur« vorkommt.
Ein paar Monate später weiß ich: Ein Satz, in dem das Wort »nur« vorkommt, ist mit seinem Frustrationspotential unentschieden mit »einfach« Sätzen. Sieger auf der nach oben offenen Hass-Skala sind Sätze mit der Kombination »einfach nur«, wie zum Beispiel: »Du brauchst ja einfach nur was auch immer machen.« Seit Ende Mai ist in meinem Leben absolut nichts »einfach nur«.
Wie auch immer, der Schlüssel steckt im Kastenschloss, ich habe das Ende des Schlüssels zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand, allerdings habe ich zu wenig Kraft um den Schlüssel mit der linken Hand umzudrehen. Nach ein paar Versuchen mit der linken und der rechten Hand komme ich auf die Lösung. Ich lege die rechte Hand von unten an das Schloss, der rechte Daumen liegt an der linken Seite des Schlüssels. Die linke Hand drehe ich so, dass der kleine Finger nach oben zeigt, der Daumen klemmt den Schlüssel von der rechten Seite ein. Ich drehe beide Hände und tatsächlich: der zwischen den beiden Daumen eingeklemmte Schlüssel dreht sich, der Kasten mit dem Laptop ist verschlossen. Befriedigt drücke ich auf die Stopptaste des Handys, schaue aufs Display und kann es nicht fassen. 18 Minuten und zwölf Sekunden. 18 Minuten für das Absperren einer Kastentür! Ich habe meine erste Lektion im Unterrichtsfach Geduld gelernt.
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