»Sicher?« frage ich. »Ich habe wirklich nichts gespürt.«
»Das kann bei Ihrer Verletzung sein. So«, setzt er fort, nachdem er sich die Handschuhe ausgezogen und die Hände gewaschen hat, »so, das Zäpfchen braucht zirka 20 Minuten, bis es wirkt. Ich muss gehen, wir machen jetzt die Dienstübergabe. In ungefähr 30 Minuten kommt ein anderer Pfleger. Schönen Tag noch.«
Er geht, ich bleibe sitzen. Ich schaue auf die Uhr. Acht Minuten, mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Ich schaue auf die Uhr. Zwölf Minuten. Gibt es die Dauer von zwei Ewigkeiten? Ich habe das Gefühl, dass etwas an der Uhr nicht stimmt. 16 Minuten, meine Beine verkrampfen sich, die rechte Wade beginnt, unerträglich zu schmerzen. 18 Minuten, der Schmerz lässt in der Wade etwas nach, dafür beginnen mich beide Oberschenkel zu foltern. Der Rechte verkrampft sich so, dass er in unregelmäßigen Abständen zu zucken beginnt. Will ich das wirklich jeden Tag über mich ergehen lassen? Ich höre einen leisen Platscher. War das jetzt Stuhl? 32 Minuten, eine fröhliche Stimme.
»Guten Morgen. Waren Sie erfolgreich?«
Eine neue Pflegerin, sie stellt sich als Etta vor.
»Ich glaube schon, ich habe etwas plumpsen gehört.«
»Na schauen wir mal.«
Sie beugt sich nach unten, blickt zwischen meinen Beinen in die Klomuschel.
»Na, das war eh schon ganz ordentlich, schauen wir, ob noch etwas drinnen ist.«
Sie richtet sich auf, zieht sich Handschuhe an, drückt etwas Vaseline aus der Tube, verschmiert sie auf den Fingern und beugt sich vor mir nieder.
»Was machen Sie da?«
»Einen Ampullencheck.«
»Einen was?«
»Ich schaue, ob noch Stuhl in Ihrem Darm ist, normalerweise kommt alles raus, aber nicht immer.«
Das ist mir jetzt aber wirklich peinlich, unwillkürlich versuche ich, die Oberschenkel zusammenzudrücken. Etta merkt meine instinktive Abwehrbewegung.
»Es tut nicht weh, aber sicher ist sicher, es hat keinen Sinn, wenn der Darm nicht leer ist.«
»Es ist nicht die Angst vor dem Schmerz, ich spüre eh nichts, es ist nur nicht lustig, wenn Sie mir den Finger in den Hintern stecken.«
»Ich fürchte, daran werden Sie sich gewöhnen müssen.«
Sie drückt meine Beine auseinander, ein paar Augenblicke später begutachtet sie ihren Finger.
»Na bitte, nichts mehr drinnen, fahren wir duschen.«
Die Duschkabine ist direkt neben dem Klosett. Etta zieht den Vorhang zu, duscht mich ab, nimmt reichlich Duschgel und beginnt mich zu waschen. Währenddessen fragt sie mich, warum ich hier bin. Ich erzähle ihr vom Unfall und dass er am fünfundzwanzigsten Hochzeitstag passiert ist. Sie sagt, dass ihr das mit dem Unfall leidtut, reagiert aber auch nicht auf den fünfundzwanzigsten Hochzeitstag. Sie trocknet mich ab und fragt: »Können Sie sich selbst rasieren und Zähne putzen?«
»Nein«, sage ich, »noch nicht. Ich kann die kleinen Griffe nicht halten.«
»Ihre Frau soll Ihnen einen elektrischen Rasierer mitnehmen. Über den Griff der Zahnbürste wickle ich Ihnen etwas Schaumstoff, das macht den Durchmesser größer. Morgen probieren Sie es selbst.«
Ich merke, sie ist eine Frau der Tat. Sie rollt mich wieder zum Bett und hebt mich vom Duschrollstuhl ins Bett. Obwohl ich eigentlich nichts gemacht habe, bin ich ziemlich erschöpft.
»Guten Morgen, Ziggy Wojciechowski, ich bringe Ihnen das Frühstück.«
»Wozi, Wozicho, ähhh, ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden«, sage ich.
»So geht es praktisch allen«, lacht der Pfleger fröhlich. »Wojciechowski. Sie können aber Ziggy sagen, Ziggy mit Ypsilon, das ist wahrscheinlich leichter«, lächelt er.
»Ziggy. Wie in Ziggy Stardust«, sage ich verträumt.
»Bitte?« schaut er mich verständnislos an.
»Ziggy Stardust, David Bowie.«
Ziggy runzelt fragend die Stirn.
»Das muss so um 1970, 1975 gewesen sein«, sage ich nachdenklich. »Sorry, das können Sie wahrscheinlich nicht wissen, da waren Sie ja noch gar nicht auf der Welt«, sage ich und komme wieder darauf, wie alt ich schon bin. »Wie auch immer, danke für das Frühstück. Das ist ja wie im Luxushotel.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh«, lächelt er weiter, »das ist nicht Bad Schallerbach.«
Jetzt schaue ich ihn fragend an.
»Das hier ist kein Kururlaub. Sie werden ganz schön arbeiten müssen, damit sie wieder fit werden.«
»Deswegen bin ich ja hier. Das mit dem Luxushotel war eher wegen des Frühstücks gemeint.«
»Das ist eine Übergangslösung, bis Sie selbst essen können, dann fahren Sie in den Frühstücksraum. Bis dahin mache ich Ihnen das Frühstück. Soll ich Ihnen die Semmel streichen?«
»Bitte.«
»Honig auch? Oder Marmelade?«
»Weder noch, nur Butter, bitte.«
Eine Minute später hält er mir die fertige Semmel entgegen.
»Können Sie sie selbst halten? Geht´s?«
»Alles geht.«
Ich nehme sie mit beiden Händen und beiße ab. Beim dritten Bissen fällt sie mir auf die Bettdecke.
»Soll ich Sie füttern?«
»Nein es geht schon.«
Ich versuche die Semmel von der Bettdecke zu nehmen, kann sie aber nicht greifen. Schließlich nimmt sie Ziggy.
»Soll ich Sie nicht doch lieber füttern?«
»Früher verhungere ich. Es kann nicht sein, dass eine Semmel stärker ist als ich.«
Ziggy lacht und hebt die Semmel von der Bettdecke. Ich konzentriere mich und schaffe es, sie fertig zu essen, ohne dass sie wieder runter fällt. Na bitte, Wosp gegen Semmel, 1:0.
Während des Frühstücks erzähle ich ihm vom Unfall und dass er am fünfundzwanzigsten Hochzeitstag passiert ist. Ziggy nimmt den Hochzeitstag kommentarlos zur Kenntnis. Mir fällt langsam auf, dass der fünfundzwanzigste Hochzeitstag scheinbar nur für mich von Bedeutung ist. Das bestätigt sich auch in der Zukunft. Egal mit wem ich seit dem Unfall darüber gesprochen habe, es gab Kommentare zum Unfall oder zum Fortschritt der Rehabilitation, dass der Unfall am fünfundzwanzigsten Hochzeitstag war, war aber allen egal. Erst spät merkte ich einen gemeinsamen Nenner von allen, mit denen ich über den Unfall redete. Niemand war länger als maximal zehn Jahre verheiratet, die meisten sogar mindestens einmal geschieden. Meine Theorie ist, dass fünfundzwanzig Jahre verheiratet sein, für alle so unvorstellbar ist, dass ein fünfundzwanzigster Hochzeitstag für niemandem wirklich etwas bedeutet.
Ich bekomme meinen Therapieplan: ½ Stunde Physiotherapie, ½ Stunde Ergotherapie am Vormittag, am Nachmittag eine weitere halbe Stunde Ergotherapie. Was mache ich mit dem Rest des Tages? Ich frage die diensthabende Ärztin. Sie sagt, ich soll es langsam angehen, ich habe eine schwere Verletzung, wir müssen erst schauen, wie gut ich mit den Therapien zurechtkomme, dann können wir langsam zusätzliche Einheiten dazugeben, nur Geduld.
Herbert kommt in mein Zimmer. Ich merke mit Entsetzen, wie schnell die Akklimatisierung an das Rehabilitationszentrum erfolgt. Ich bin seit gestern hier und es ist nicht ›das‹ Zimmer, sondern bereits ›mein‹ Zimmer. Ich weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber in vier Monaten werde ich in einem Lokal sitzen und sagen »Ich muss jetzt langsam nach Hause fahren« und dabei das Rehabilitationszentrum meinen. Herbert sitzt in einem Rollstuhl und hat einen zweiten, den er vor sich herführt. Er begrüßt mich, stellt sich