»Sie gleiten«, erklärte Lilu beiläufig. »Dipis können nicht fliegen. Sie gleiten nur sehr geschickt von Baum zu Baum.«
Nach einem langen, aber durchaus entspannten Marsch war es abermals Zeit, eine Pause einzulegen. Alexanders Bauchschmerzen waren deutlich gelindert und ihm entwichen nur noch von Zeit zu Zeit übel riechende Gase.
»Eine kleine Stärkung, mein Lieber?«
»Hast du noch welche von den Pilzen? Die haben echt lecker gerochen.«
»Ich werde mich um Brennholz bemühen und du …«
Alexander unterbrach sie und nickte. »Ja, ich weiß. Ich warte hier.«
»Du sagst es.«
Und dieses Mal tat Alexander, wie ihm gesagt wurde. Lilu kehrte mit einem Arm trockenen Brennholzes zurück, und so schmorten sie die Pilze. Hätte er früher gewusst, wie gut Pilze schmecken können – er hätte sicher schon eher welche probiert.
Lilu spürte, dass ihrem Freund etwas auf der Seele lag. »Alexander, ich habe das Gefühl, dich bedrückt etwas …«
Er schaute sie einen Moment an, verdrehte die Augen und es schien fast so, als ob er die vergangenen Tage in seinem Inneren noch einmal durchlebte. Dann schüttelte er die Gedanken fort und sagte: »Du meinst, abgesehen von Drachen, Riesenkäfern und fleischfressenden Pflanzen?«
»Ja, ungeachtet dessen.«
»Eigentlich habe ich tausend Fragen.«
Sie schaute ihn an. »Dann fang doch am besten mit der ersten an. Was möchtest du wissen?«
»Äh, zum Beispiel …«, Alexander überlegte, »Gibt es denn hier nur bösartige Wesen, die nichts Besseres im Sinn haben als Turnschuhe zu klauen oder Menschen zu fressen?«
»Nein, natürlich nicht. Wo denkst du hin? Es gibt den Brötchenmeister, die Heberlinge und noch viele andere wundervolle Geschöpfe. Im Süden des Waldes wachsen Honigbäume von denen der goldene Saft nur so heruntertropft. Und es gibt hier viele bunte Regenbogen. Wenn sie besonders kräftig sind, kann man von ihnen herunterrutschen und du sollst wissen: Am Ende eines jeden Regenbogens wartet eine Schatztruhe voller Gold und Edelsteine. Man braucht sie nur auszugraben.«
Verunsichert sah Alexander sie an. »Ehrlich?«
Lilu lächelte und antwortete: »Nein, nicht wirklich. Aber es wäre doch schön, oder?«
Nun war es für Alexander endgültig an der Zeit, beleidigt zu sein. Schließlich hatte er diese Frage durchaus ernst gemeint und erwartete eine ebenso ernsthafte Antwort. Es mag an seiner hilflosen Grimasse mit den fragend auf und ab tänzelnden Augenbrauen gelegen haben, jedenfalls überkam Lilu ein herzhaftes Lachen, das durchaus ansteckend war. So konnte Alexander gar nicht anders als lauthals mitzulachen.
Doch wenige Augenblicke später verstummte sein Lachen zu einem milden, fast verlegenen Lächeln. Seine Stimme wurde ernster. »Ich weiß nicht wie ich es sagen soll aber ich habe so gar keine Erinnerung an meine Vergangenheit. Alles, was ich weiß ist, dass ich mich hier nicht wohl fühle. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich auf die Lichtung gekommen bin und was ich vorher gemacht habe. Ist das nicht eigenartig?«
Lilu rieb sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ja, schon ein wenig.« Sie räusperte sich und gab sich nun alle Mühe, respektvoll zu erscheinen. »Ich glaube immer noch, dass du verschleppt wurdest und aus irgendeinem Grunde dein Gedächtnis verloren hast.«
»Passiert das hier öfter? Ich meine, werden öfter Leute verschleppt und in Wäldern ausgesetzt?«
»Nun ja – es ist nicht gerade an der Tagesordnung, aber in diesem Wald treiben sich eine Menge seltsamer Geschöpfe herum. Da könnte es durchaus möglich sein …«
»Mit anderen Worten: Du hast also auch keine Ahnung, wie ich dort hingekommen bin?«
»Leider nicht.«
»Manchmal erinnere ich mich an Dinge, für die ich keine Erklärung habe. Und dann denke ich, dass ich mir das vielleicht auch nur einbilde.«
»Irgendwie unheimlich, was?«, nickte Lilu.
»Ja, seltsam. Auf jeden Fall muss ich herausfinden, wo ich herkomme und wo ich hin will«, entschied Alexander entschlossen.
»Wo du hin willst, wissen wir ja schon«, lächelte Lilu zufrieden und zeigte mit ihrem Finger in eine unbestimmte Himmelsrichtung. »Zum Drachenberg.«
»Drachenberg … wer will da schon hin? Und außerdem kann das doch nicht der Sinn meines Lebens sein.«
»Wer weiß, vielleicht schon. Es könnte doch sein, dass es dein vorbestimmtes Schicksal ist, und seinem Schicksal kann man nicht entfliehen, soviel ist gewiss.«
»Ich kann mir einiges vorstellen aber das ist das dämlichste Schicksal, das man haben kann.« Er schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das kann nicht meine Bestimmung sein. Nie und nimmer. Ich bin erst zwölf.«
»Alexander, du wirst sehen, eines Tages wirst du dich erinnern können und dann wird alles einen Sinn ergeben. Wir sind nicht zufällig auf der Welt, weißt du? Jeder von uns hat seine Aufgaben und das ihm vorbestimmte Schicksal zu erfüllen.«
»Mich würde ja schon beruhigen, wenn ich wüsste, welches Schicksal das ist oder wenigstens, wo ich bin.«
»Aber das weiß doch keiner so genau. Warum also solltest du es wissen? Jeder Morgen birgt neue Überraschungen und es liegt an einem selbst, das Beste aus dem Tag zu machen.«
»Da hast du auch wieder Recht.«
Nachdem sie sich die Bäuche mit vielen Pilzen und einigen Beeren gefüllt hatten, ließen sie sich nieder und unterhielten sich noch ein Weilchen über diese seltsamen Themen. Alexander hatte zwar ungefähr noch neunhundertfünfundneunzig Fragen, die ihn beschäftigten und nach Antworten verlangten, doch seine Müdigkeit war stärker und, obwohl es helllichter Tag war, fielen ihm die Augen zu.
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»Wach auf, Alexander, wir haben etwas zu erledigen, das keinen Aufschub duldet. Schnapp dir deinen Knüppel, du wirst ihn brauchen«, vernahm der Junge und war sich nicht sicher, ob er wachte oder träumte. War da schon wieder ein garstiges Wesen, das ihnen nach dem Leben trachtete? Lilu kniete über ihm und flüsterte: »Wir müssen sehr vorsichtig sein und leise wie die Mäuschen.« Der Ausdruck ihrer Augen verriet ihm, dass Gefahr in der Luft lag und er wurde plötzlich hellwach. »Ich werde mucksmäuschenstill sein.«
Er packte seinen Knüppel, schlich leise in Lilus Fußspuren und dachte darüber nach, was eigentlich ein Mucksmäuschen3 war.
Wenig später blieb Lilu stehen, hockte sich nieder und flüsterte: »Ducke dich. Da oben. Im Baum, der Horst.«
Da erblickte Alexander ein sehr, sehr großes Vogelnest im Wipfel des Baumes und am Rande des Nestes stand ein Vogel. Nun ja, es war ein überraschend großer Vogel aber halt nur ein Vogel. »Das wolltest du mir zeigen? Das ist doch nur ein Storch«, erwiderte er enttäuscht. »Da macht man einmal husch und weg ist er.«
»Nein, ich habe es gehört. Ich bin mir ganz sicher«, flüsterte Lilu und plötzlich hörte er es auch. »Das … das kann doch nicht sein! Ist das …?«
»Ja, mein Freund, das sind die Hilferufe eines Babys.«
Alexander traute seinen Ohren nicht: »Ich glaube, ich spinne! Ist da ein echtes Baby drin?« Die Schreie schienen, soweit Alexander das aus dieser Entfernung erkennen konnte, tatsächlich die eines Babys zu sein. Diese Angelegenheit verunsicherte ihn und so stellte er eine Frage, die er unter anderen Umständen für sehr lächerlich gehalten hätte: »Also bringen Störche doch die Babys?«
Lilu schüttelte ihren Kopf und flüsterte: »Nein, mitnichten. Störche