»Das ist doch mal ein guter Vorschlag, mein Lieber. Ich brauche auch eine Pause. Meine Beinchen sind nicht für solche Märsche gemacht«, antwortete Lilu erschöpft.
Gebrannte Mandeln
Am Fuße eines mächtigen, alten Baumes blieb sie stehen, schaute sich kurz um und beschloss: »Hier werden wir die Nacht verbringen.«
Alexander hielt Abstand und betrachtete den Stamm. »Das ist keine Eiche. Bist du dir sicher, dass es keine Weide ist?«
»Ganz sicher keine Weide«, versicherte Lilu. Vereinzelt lagen große, Moos bewachsene Steine am Boden und der dichte Farn bot einen gewissen Schutz vor neugierigen Blicken. Die Erde war mit losem Laub bedeckt und schien als Nachtlager nicht schlechter als andere Plätze.
Alexander legte sich auf den Boden und jammerte: »Meine Füße. Meine armen Füße.« Dann zog er seine Turnschuhe aus, legte sich lang hin und streckte seine Glieder weit von sich.
»Ich werde nun für Feuerholz sorgen und du wartest hier. Rühr dich nicht vom Fleck, hast du verstanden?«, sagte Lilu streng, drehte sich um und ging.
»Genau das habe ich gerade gesagt: Ich gehe keinen Schritt mehr«, antwortete Alexander missmutig. »Und was ist mit Essen? Ich habe schon ein Loch im Bauch.«
Sie drehte sich noch einmal herum und antwortete: »Der Proviant ist leider verbraucht. Ich werde meine Augen offen halten. Vielleicht habe ich Glück und finde ein paar Pilze oder Beeren.« Dann verschwand sie in der Dämmerung und Alexander war allein. Sein Magen knurrte. Er setzte sich auf und lehnte sich an den großstämmigen Baum. Er wusste zwar nicht, was das für ein Baum war aber eine Weide war es sicher nicht. ›Hoffentlich bringt sie etwas zu essen mit. Jetzt würde ich sogar Pilze essen‹ dachte er, als er plötzlich er ein leises Rascheln hinter sich vernahm. Seine wunden Füße und sein Hunger hatten ihn die Geschichte mit dem Mirgos vorerst vergessen lassen, doch nun erinnerte er sich wieder lebhaft an diese zweifelhafte Begegnung. Vielleicht war es ihnen gefolgt.
Ganz vorsichtig, auf allen Vieren, krabbelte Alexander um den Stamm des Baumes. Wenn er doch bloß einen Knüppel oder etwas Ähnliches gehabt hätte. Glücklicherweise sah er jedoch nur diese kleinen, pelzigen Heberlinge, die auch hier nach Beeren zu suchen schienen. Ob es dieselben waren, vermochte er nicht zu sagen aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit ihren kurzen Beinchen so weit hätten laufen können. Er beobachtete einige dieser Tierchen, die emsig dabei waren, Beeren von den unteren Ästen zu sammeln. Husch, husch ging das und die Früchte verschwanden in den Körbchen, die sie auf ihren Buckeln trugen.
Eines dieser Heberlinge hatte helle Streifen auf dem Rücken und war deutlich pummeliger als seine Gefährten. Es bewegte sich nicht so rasch und es war auch nicht so eifrig. Statt der Beeren am Ast las es die reifen Beeren vom Boden auf, wobei es sich sehr gemächlich bewegte. Jede dritte Beere probierte es oder verputzte sie ganz, bis alle entweder im Körbchen oder im Magen des Tierchens waren.
Alexander folgte dem gestreiften Tierchen mit seinen Blicken, bis es außer Sicht war. ›Die Heberlinge werden mich zu leckeren Beeren führen‹, dachte er und schlich fast lautlos in die Richtung, in die er es hatte verschwinden sehen.
Das Tierchen hockte knabbernder Weise auf dem Waldboden. Es hatte eine jener kleinen braunen Kugeln in der Pfote, die scheinbar wahllos verstreut in der Gegend herum lagen. Diese Kugeln hatten ungefähr die Größe von Haselnüssen, schienen aber keine harte Schale zu besitzen. Das Gestreifte hatte sich mittlerweile aufgemacht, weitere Kügelchen aufzusammeln, von denen es nur noch jedes zweite in seinen Korb steckte. Es ließ sich in keiner Weise von dem Fremden stören und so schlich er näher heran. Die Nüsse schienen dem Tierchen so sehr zu schmecken, dass Alexander fast bis auf Reichweite an es herankam.
›Ob ich versuchen sollte, es zu streicheln‹, fragte er sich und wagte sich noch ein Stück näher. Er ging in die Knie und beugte sich vorsichtig herunter, als ihm plötzlich der verlockende Duft dieser runden Dinger in die Nase stieg.
Die musste er unbedingt versuchen. Alexander hob eines der Kügelchen auf und hielt es prüfend zwischen seinen Fingern. Giftig konnte es nicht sein, denn das Heberling aß davon. Es roch ein wenig nach gebrannten Mandeln, die er auf dem Rummel so gerne aß. Sorgfältig strich er eines der Kügelchen mit seinem Ärmel sauber, steckte es in seinen Mund und begann vorsichtig zu kauen. Es schmeckte einfach vorzüglich und tatsächlich ein wenig nach gebrannten Mandeln. Nicht ganz so süß und nicht ganz so hart und einfach lecker. Er sammelte weitere Kügelchen und steckte diese in seine Jackentasche. Noch zwei oder drei Kügelchen landeten in seinem Mund, bis er hinter sich plötzlich eine Stimme vernahm: »Lass es lieber.«
Alexander erschrak. Hinter ihm stand Lilu.
»Musst du mir so einen Schrecken einjagen?«, fauchte er. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«
Lilu stand dicht bei ihm und antwortete mit ruhiger Stimme: »Das liegt an den Dingern – die machen das.« Dann zeigte sie in die Richtung, in die Alexander das Gestreifte hatte verschwinden sehen und sagte: »Lege sie aus der Hand. Folge mir und du wirst verstehen.«
Nach wenigen Schritten blieb Lilu stehen. Sie erhob mahnend ihren Zeigefinger und blickte in die Richtung des kleinen, pummeligen Heberlings und flüsterte: »Schau dir das arme Wesen an. Es sieht nichts und hört nichts und ist bereits verloren.«
Aber Alexander verstand nicht, wovon sie sprach. Das Tierchen sah putzig aus, wie es auf dem Boden sitzend mit beiden Pfoten das Nüsschen hielt und genüsslich daran nagte.
»Sie benebeln die Sinne. Sie liegen hier nicht zufällig. Die Kügelchen bilden eine Spur, die ins sichere Verderben führt.«
»Äh, was meinst du?«, fragte Alexander.
»Schau hin, dann siehst du mit eigenen Augen, wovon ich spreche.«
Das Tierchen hatte derweil alle Kügelchen vom Waldboden aufgelesen, bis es vor einer riesigen Pflanze mit einer fast schwarzen, sackartigen Blüte stehen blieb. Diese Pflanze schien annähernd so groß zu sein wie Alexander selbst und sich sachte im Wind zu wiegen, obwohl kein Lüftchen sich regte. Das Heberling schien sich nicht für die mächtige Blume zu interessieren, sondern eher darüber verwundert zu sein, dass es keine Nüsschen am Boden mehr fand. Neugierig streckte es die Schnauze in die Höhe, schnupperte und trat dabei näher an die Pflanze heran.
Gerade als Alexander Lilu fragen wollte, was nun passieren würde, riss die Pflanze ihren Schlund auf, eine lange Zunge peitschte blitzschnell heraus, schnappte das bedauernswerte Wesen und verschlang es mit Haut und Haaren. Ein lautes, jammervolles Quieken erfüllte für einen kurzen Moment die Luft. Das Ganze passierte so plötzlich und unerwartet, dass Alexander glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Eben noch stand das niedliche Gestreifte da und genoss die köstlichen Nüsse und eine Sekunde später war es im tiefen Schlund der Pflanze verschwunden.
Erschrocken und völlig verstört warf er Lilu einen fragenden Blick zu und sie sagte mit leiser Stimme: »Das ist die alte Guste. Sie ist keine Blume. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie eine Pflanze ist. Sicher bin ich mir jedoch, dass sie böse und hinterhältig ist.«
Mit offenem Mund hockte Alexander neben Lilu und sie fuhr fort: »Die Kügelchen sind von ihr. Sie benebeln die Sinne und wer davon kostet, wird unaufmerksam. Sie verstreut ihre Köder scheinbar wahllos, doch führen sie immer in ihren hungrigen Schlund. Was Guste erst einmal mit ihrer klebrigen Zunge zu fassen gekriegt hat, wird ihr nicht entkommen. Höre auf meinen Rat und meide sie.«
Leise konnte man das Quieken des bedauernswerten Heberlings noch hören, das sich seinem Schicksal noch nicht ergeben hatte. Das war zu viel. Das war eindeutig zu viel für den armen Jungen. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, schaute er Lilu vorwurfsvoll an und sagte: »Aber du hättest das Tierchen doch warnen können. Warum hast du es denn nicht gewarnt?«
Lilu ließ sich nicht aus Ruhe bringen und seufzte: »Es wäre sowieso zu spät gewesen – leider. Wenn die Guste es nicht verschlungen hätte, wäre es durch die Kügelchen elendig verendet.«