An einem Kebab-Verkauf drängelt sich eine Gruppe kichernder junger Japanerinnen, während hinter der Theke ein dunkelhaariger Mann in T-Shirt mit einem Säbelmesser Fleischstreifen von dem Spieß herunterschneidet und die Kundinnen amüsiert mustert. Der Geruch von Grillfleisch und Knoblauch mischt sich mit dem der Abgase der Autoschlangen vor den Ampeln. Das Gebräu von Gerüchen, Lärm, Neonlicht und Menschenmengen verursacht mir Schwindel und Übelkeit. Wehmütig denke ich einen Moment lang an den sternenklaren, von keiner Straßenlampe verunreinigten Nachthimmel in unserem Nest in Norfolk.
Dann biege ich endlich ab. Lärm und Glitter der Hauptstraße ersterben plötzlich. Ein düsterer Häuserwall umgibt mich, nur von heruntergelassenen Rolläden durchbrochen, aus denen Lichtspitzen dringen. Ich erreiche das Haus mit der türkischen Änderungsschneiderei im Erdgeschoss. Während ich zurücktrete, werfe einen Blick hinauf zu den erleuchteten Fenstern im dritten Stock. Einen Moment lang zögere ich, bevor ich auf die mit “Winterfels/Glashauser“ beschriftete Klingel drücke.
„Ja bitte?“, meldet sich eine heisere Stimme.
„Regine hier, Julias Tante.“
„Nehmen Sie den Lift bis zum dritten Stock“, sagt die Stimme. Der Türöffner summt, und ich trete in die Halle.
Eine junge Frau in Jogginganzug, dicken Socken und mit kurzem Haar lehnt in der Wohnungstür gegenüber dem Lift.
„Karen. Kommen Sie herein“, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. Ihr Händedruck ist fest, aber gleichzeitig schiebt sie mich unmerklich fort. Sie nimmt mir den nassen Mantel ab und hängt ihn über einen Heizkörper im Flur.
8
„Mit solchem Wetter habe ich nicht gerechnet. In England ist es wärmer“, sage ich, während ich aus den Schuhen schlüpfe.
„Es schneit schon seit zwei Tagen. Und der Kälteeinbruch in den Bergen ist wirklich extrem“, sagt Karen.
Sie führt mich durch das Wohnzimmer in die Küche. Niemals würde ich mich hier wohlfühlen. Die niedrige Decke scheint sich auf mich herunterzudrücken, ein Eindruck, der durch den vollgepfropften Raum noch verstärkt wird. Keine Wandfläche ist sichtbar. Überall verteilen sich Regale voller Bücher und Schnickschnack, als hätten die Bewohnerinnen Angst, Lücken zu lassen. Durch das Fenster schimmert auf dem Balkon der verschneite Lenker eines Fahrrads. Ein Cello lehnt in einer Ecke des Wohnzimmers.
Das erinnert mich an Zimmer in Wohngemeinschaften meiner Studentenzeit. Wo sonst findet man noch diese Art von Futonsofa mit Holzgestell, dessen darübergeworfene Matratze ständig verrutscht, weil sie nicht zu befestigen oder einfach zu schwer ist. Diese Dinger können niemals ordentlich aussehen. Ich habe gedacht, sie seien längst aus der Mode gekommen. Wahrscheinlich lässt sich das Sofa zum Bett ausklappen, hoffentlich nicht für mich heute Nacht.
Auf einem niedrigen Glastisch davor häufen sich Bücher und Illustrierte. Ein Liegesessel im Mondrian-Design, in eine Ecke gequetscht, ragt in den Raum hinein, ohne dass jemand die Chance hätte, seine verschiedenen Positionen ausprobieren zu können. Ohnehin stapeln sich auf ihm Berge von gefalteter Wäsche.
Es duftet nach Räucherstäbchen. Auf den Fenstersimsen flackern Kerzen. Die trockene Heizungsluft verursacht mir einen Hustenreiz, den ich herunterzuschlucken versuche. Wir wissen beide nicht recht, wo wir anfangen sollen. Sie schaut mich fragend an. Ihre Augen sind gerötet; bestimmt hat sie geweint.
„Haben Sie schon etwas zu Abend gegessen? Ich war gerade dabei, mir eine Kleinigkeit zu machen“, sagt sie zögernd. Sie deutet auf den Küchentisch und fordert mich mit einer Geste auf, Platz zu nehmen.
Sie erinnert mich an ein verschrecktes Eichhörnchen. Ich setze mich, verspüre aber nicht den geringsten Appetit. Wann habe ich eigentlich zuletzt etwas gegessen? Zum Frühstück, eine Schale mit Porridge. Für den Rest des Tages habe ich mich von Kaffee und Mineralwasser ernährt. Es passiert mir nicht oft, dass ich zu essen vergesse.
„Vielleicht eine Kleinigkeit, das könnte nicht schaden“, sage ich.
Auf einem Holzbrett liegen ein paar Scheiben Brot, ein Stück Ziegenkäse und drei verschrumpelte Tomaten. Nicht gerade eine verschwenderische Mahlzeit, aber genug. Neben der bereits geöffneten Weinflasche brennt eine dicke Kerze, von der ein Hauch von Vanillearoma ausgeht.
Karen schenkt sich Rotwein in ein schon benutztes Glas ein.
„Sie auch ein Glas?“
Ich nicke. Die rustikalen Holzstühle stammten noch vom Gutshof, fällt mir auf, ebenso wie der Tisch. Ich erkenne an einer Stelle sogar einige tiefe Kratzer, für die Mona und ich damals mit Hausarbeit büßen mussten.
Karen füllt ein weiteres großes Glas bis zum Rand, setzt sich mir gegenüber und prostet mir zu. Schweigend trinken wir. Endlich ergreift sie das Wort.
„Ich kann das alles noch gar nicht fassen. Ein Alptraum. Von wegen Selbstmord, dass ich nicht lache. Nur weil Julia das schon einmal versucht hat. Aber diesmal ist es anders. Ich weiß, dass jemand sie getötet hat. Und Sie müssen mir helfen, das zu beweisen.“
Dicke Tränen rollen nun über ihre Wangen und tropfen auf den Tisch, ohne dass sie sich darum schert. Da bildet sich ein kleiner See, in dem sie mit dem Zeigefinger herumrührt.
Julia hat schon einen Selbstmordversuch hinter sich? Ich betrachte Karen und überlege eine Weile.
„Also, ich ... ich wüsste nicht, wie ich in dieser Situation helfen sollte. Vor allem bin ich gekommen, weil Julias Mutter anscheinend nicht hier sein kann. Damit wenigstens ein Familienmitglied sich um alles kümmert ... Beerdigungsformalitäten, Julias Sachen ordnen, die Wohnung... Wo hat man sie eigentlich hingebracht?“ sage ich.
„Ins Institut für Rechtsmedizin, in der Nussbaumstraße“, schluchzt Karen. „Man hat sie schon obduziert, um ganz sicher über die Todesursache zu sein.“
„Und?“
„Eindeutig Suizid, sagen sie. Tod ohne Fremdeinwirkung. Julia ist wohl zum verschneiten Isarufer in der Nähe von einem Ort namens Geretsried gefahren, hat anscheinend eine ordentliche Dosis Valium geschluckt und ist dann erfroren. Wie sie allerdings ohne Auto dorthin gekommen ist, darüber scheint sich kein Mensch Gedanken zu machen. Und mögliche Spuren hat längst der Schneefall bedeckt.“
„Sie sagten am Telefon, dass Julia am Wochenende in Skiurlaub fahren wollte?“, frage ich.
Karen wird plötzlich lebhafter und beugt sich vor.
„Richtig! Wenn sie sich wirklich hätte umbringen wollen, hätte sie sich wohl kaum neu eingekleidet, oder? Sie hatte mit Freunden eine Hütte bei Garmisch gebucht, wollte auch einen Skikurs machen und freute sich schon riesig. Die depressive Julia hab ich zur Genüge erlebt. Glauben Sie mir, die war ganz anders drauf.“
„Tja, das ergibt wenig Sinn“, sage ich nachdenklich. „Aber auf der anderen Seite ... Wer sollte denn Grund haben, Julia zu töten?“
Karen zuckt die Achseln und schaut mich bedeutsam an. Weiß sie mehr, als sie sagen möchte?
„Sie wissen wahrscheinlich, dass Julia und ich seit Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gehabt haben“, sage ich. Meine Stimme klingt langsam etwas ungeduldig. Sie nickt nur.
„Ich habe also keine Ahnung von Julias jetzigem Leben. Sie müssen mich schon auf den neuesten Stand bringen, wenn ich von Nutzen sein soll.“
Sie betrachtet mich eine ganze Weile lang. Dann seufzt sie, schenkt uns beiden Wein nach und nimmt einen kräftigen Schluck.
„Also gut. Ich werde versuchen, Sie zu updaten. Und ... dann gebe ich Ihnen als kleine Nachtlektüre Julias Tagebuch zu lesen.“
Um ihre Lippen spielt die Andeutung eines Lächelns. Viel Schlaf werde ich hier vermutlich nicht bekommen.
„Julia ist Montag früh zur Kunstakademie gegangen. Sie studiert Kunst, müssen