„Nachher gehen wir zu den Robben“, erkläre ich den Hunden, die mich aufmerksam betrachten und die Ohren aufstellen. Mit schnellen Blicken zum Kühlschrank teilen sie mir mit, dass sie zuerst ihr Frühstück erwarten, bestehend aus Joghurt und Haferflocken, garniert mit Glukosamintabletten und einem Schuss Mineralienessenz, weil sie schon ältere Damen sind. Jo scherzt oft, die beiden würden ihn sicher überleben bei all der Fürsorge, die ich ihnen zukommen lasse. Jedenfalls trinken sie weniger Alkohol als er.
Manchmal erinnere ich mich. An die Funken, die wie ein Feuerwerk zwischen uns aufschossen. An sein tiefes Lachen, das mich ansteckte und eine Gänsehaut über meinen Körper trieb. Dann vermisse ich uns, obwohl er nun zum Greifen nah ist, Teil meines Alltags, meines Lebens. Ich weiß nicht, was mit uns geschehen ist. Warum ich ihm so oft ausweiche. Und warum er manchmal so erschöpft erscheint.
An mir kann es doch nicht liegen, oder? Auch wenn er mich manchmal wie eine Fremde anschaut, als würde er sich plötzlich fragen, wie um Gottes Willen er hierher geraten ist, in dieses zugige alte Haus am Meer, zu dieser unbekannten Frau jenseits ihrer besten Jahre, in dieses fremde Land. Unser Zusammenleben scheint uns eher zu trennen. Je größer die räumliche Nähe, desto mehr entfernen wir uns voneinander, und ich scheine nichts dagegen tun zu können. Niemals hätte ich das für möglich gehalten. Ein Leben mit ihm war immer genau das gewesen, wonach ich mich sehnte.
Er betritt die Küche, als ich schon längst den Frühstücksraum aufgeräumt habe, und sinkt auf seinen Stuhl am Tisch. Ab und zu hilft er mir beim Bewirten der Gäste, lässt Funken seines alten Charmes aufblitzen und bringt sie mit seinen reizenden Fehlern im Englischen zum Lachen. Heute aber, das sehe ich gleich, ist ein schlechter Morgen.
„Ich habe verschlafen“, brummt er, ohne aufzublicken. Vergeblich versuchen die Hunde, ihn durch Anstupsen mit den Schnauzen zum Streicheln zu bewegen. In sich zusammengesunken starrt er vor sich hin und schiebt sie fort. Ich stelle eine Tasse Tee mit einem Schuss Milch vor ihn auf den Tisch.
„Toast oder Müsli?“
„Die warten bestimmt schon auf mich. Warum hast du mich nicht geweckt“, entgegnet er mürrisch und streckt blindlings eine Hand nach mir aus. Ich weiche ihr aus und fülle stattdessen die Spülmaschine.
„Sprichst du nicht mehr mit mir?“ fragt er.
Diesmal kreuzen sich unsere Blicke. Sein graues Haar steht ungekämmt in alle Richtungen, dunkle Tränensäcke und um den Mund eingegrabene Falten beherrschen das unrasierte Gesicht. Das alles glättet sich im Lauf des Tages. Aber der Morgen zeigt die Wahrheit, ungeschönt und unbarmherzig. Ich sollte vielleicht eine weniger grelle Birne in die Hängelampe über dem Tisch einschrauben, auch für mich.
Als das Telefon klingelt, nehme ich ab, obwohl ich weiß, dass es für ihn ist.
„Moment, hier ist er.“ Ich reiche ihm den Hörer.
„Ja, tut mir leid“, sagt er. „Der schwarze Schwan? Keine Panik. Ich bin gleich drüben.“
Er steht auf, gibt mir den Hörer zurück, leert wie üblich die Tasse mit dem kochendheißenTee in einem Zug und greift zur Wachsjacke, die an der Tür hängt.
„Soll ich dir nicht noch eben ein Brot schmieren?“ frage ich.
Er schüttelt den Kopf und wirft sich die Jacke über. Als das Telefon erneut klingelt, ist er schneller als ich.
„Was gibt’s denn noch?“ murmelt er in die Sprechmuschel. Dann verändert sich sein Gesicht, er runzelt die Stirn, presst die Lippen zusammen und hält den Hörer vom Gesicht weg, als habe er sich das Ohr verbrannt.
„Ja, da sind Sie richtig verbunden. Hier ist sie“, sagt er auf Deutsch und hält mir den Hörer entgegen. Er beobachtet mich scharf, als ich das Gespräch übernehme. Mein Magen krampft sich ein wenig zusammen.
2
„Hier Regine Bonewitz“, melde ich mich. „Mit wem spreche ich?“
Es ist lange her, seit ich den letzten Anruf aus Deutschland bekommen habe. Wer sollte mich auch anrufen? Mein Leben ist hier, in Norfolk, seit vielen Jahren schon. Ich habe alle Brücken abgebrochen, wie man so sagt. Oder andere haben sie für mich abgebrochen. Das schmerzt schon lange nicht mehr, mir geht es jetzt besser als je zuvor.
„Ich bin die Mitbewohnerin Ihrer Nichte Julia.“
Die Frauenstimme klingt kratzig und rau, erinnert mich an ein deftiges bayerisches Fleischgericht. Ich tausche einen Blick mit Jo, der fragend die Brauen hebt, und gebe ihm mit erhobener Hand zu verstehen, einen Moment zu warten, bevor er geht.
„Karen Glashauser“, sie hustet kurz, dann spricht sie weiter. „Entschuldigung, dass ich so einfach bei Ihnen anrufe, aber leider kann ich Ihre Schwester, also Julias Mutter, nicht erreichen.“
Ich schweige angespannt und warte. Jo tritt zu mir und versucht zu lauschen.
„Hallo?“, tönt es aus dem Hörer. „Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, um was es geht.“
Bewusst abweisend klingt meine Stimme, womit ich diese Frau auf Distanz halten will. Was fällt ihr ein, hier einzudringen, mich in die Enge zu drängen, hier in meiner Schutzhöhle in einem versteckten Winkel Englands am Rand der Welt?
Sie verfällt plötzlich in stärkeres Bayerisch, und ich merke auch ihr die Spannung an.
„Etwas Furchtbares ist passiert. Man hat Julia gefunden. Gestern früh. Julia ... ist tot. Sie hat eine Überdosis geschluckt und ist erfroren, an der Isar. Ein Spaziergänger mit Hund hat sie gefunden.“
Mir ist, als habe mir jemand einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Ich begreife gar nichts. Die Anruferin verstummt, nur unterdrückte Schluchzer dringen nun aus dem Hörer. Mit offenem Mund schüttele ich den Kopf und blicke zu Jo hoch. Der hat nichts mitbekommen und schaut mich fragend an. Ich senke den Hörer einen Moment lang und presse ihn gegen meine Brust, als könnte das die Wucht weiterer Worte dämpfen. Dann nehme ich ihn wieder auf. Das Schluchzen verebbt allmählich.
„Sind Sie sicher, dass es sich um Julia handelt?“, frage ich schließlich. Der Raum beginnt sich ein wenig um mich zu drehen. Ich kneife die Augen zusammen, um einen klareren Kopf zu bekommen. Jo drängt sich jetzt dicht an mich, um mitzuhorchen. Seine Nähe ist erstickend. Ich schiebe ihn fort und sinke langsam auf den wackeligen Schemel unter dem Wandtelefon.
„Ganz sicher. Sie hatte ihre Brieftasche mit ihrem Ausweis dabei. Deshalb ist die Polizei dann ja auch hierher gekommen. Ich musste sie gestern identifizieren“, sagt die Frau leise. „Eindeutig Selbstmord, meint die Polizei.“
Ich seufze. Meine Schwester Mona, Julias Mutter, hat seit ihrer Jugend an Depressionen gelitten. Ob sich so etwas vererbt?
„Aber ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat“, fährt die Frau fort. „Es ging ihr gut, da bin ich mir sicher. Sie wollte am nächsten Wochenende sogar mit Freunden in Skiurlaub fahren. Julia war Feuer und Flamme. Ich bin vor drei Tagen noch mit ihr einkaufen gegangen. Sie hat sich komplett neu eingedeckt, neue Skier, neue Schuhe, einen richtig coolen Skianzug ... Klingt das für Sie etwa nach Selbstmordgedanken? Nein, ich bin mir ganz sicher, dass jemand sie getötet hat.“
Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. Jo sitzt mit angespannter Miene am Küchentisch und fordert mich durch Gesten auf, ihn in die Neuigkeiten einzuweihen. In meinem Kopf herrscht Schneegestöber, Gedanken wirbeln durcheinander.
„Ich habe Ihnen vorhin eine Email mit dem Zeitungsausschnitt aus dem Münchner Tageblatt von heute früh zugesandt. In dem sie über Julias Tod berichten. Sie ... Sie sind meine einzige Hoffnung.“
„Hoffnung? Wofür?“ frage ich verwirrt. Viel werde ich jetzt nicht mehr aufnehmen können. Was will diese Frau von mir? Warum ruft sie ausgerechnet mich an?
„Woher ... haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?“, frage ich, und im selben