Als Alpina und Elvas eintraten, kam ihnen eine Frau aus der Dunkelheit des Ladens entgegen. Sie hatte den Mantel tief ins Gesicht gezogen und wollte offensichtlich nicht erkannt werden. Viele Frauen und natürlich auch die Männer, die Sitre konsultierten, legten Wert darauf, nicht dabei beobachtet zu werden. Das war kein Wunder, wenn man bedachte, dass die Ägypterin ihr Geld zumeist mit Liebesmagie, Tränken zur Steigerung der sexuellen Lust und der Fruchtbarkeit verdiente. Irgendetwas an der sich eilig entfernenden Frau ließ Alpina stutzig werden. Ihre Kleidung war edel und ihre Bewegungen anmutig. Sie war sich sicher, dass sie die Frau kannte. Elvas war bereits ins Innere des Ladens gegangen, weshalb Alpina sich beeilte, ihr zu folgen.
Der Laden war nicht groß, aber vollgestellt mit Körben, Amphoren und Glasphiolen. An einem Brett hingen diverse Amulette an kleinen Nägeln: Muscheln, Steine, Glasperlen in Augenform, dazu Füße, Krallen und Zähne von Tieren. Daneben war ein Regal mit vorgefertigten Votiven aus Holz, Ton oder Stein: Arme, Beine, Brüste und Gebärmütter. Auf der anderen Seite standen Kerzen, Öllampen und Räuchergefäße. An der Wand hinter dem Tresen stapelten sich Schriftrollen mit astrologischen und chaldäischen Texten sowie kleine Götterfiguren einheimischer, römischer, griechischer und auch einiger ägyptischer oder asiatischer Götter. Ein Vorhang trennte den Verkaufsraum vom Rest des Ladens, und eine schmale Treppe links des Vorhangs ließ vermuten, dass auch das obere Geschoß von der Inhaberin genutzt wurde.
Eine schnarrende Stimme erscholl aus dem Hintergrund: „Ich komme gleich!“ und tatsächlich, nur wenig später erschien die Inhaberin des eigenartigen Ladens zwischen den Falten des Vorhangs. Sie bot einen seltsamen Anblick. Auf dem Kopf trug sie eine schwarzhaarige Perücke mit vielen kleinen Zöpfchen, die in klimpernden Metallplättchen endeten. Ihre Augen waren mit kohlschwarzen Lidstrichen stark geschminkt, dazu waren die Lider türkisblau bemalt. Bei näherem Hinsehen konnte Alpina erkennen, dass das Gesicht der Frau, die auf den ersten Blick wie eine ägyptische Prinzessin aussah, bereits von tiefen Furchen durchzogen war. Sie war nicht mehr jung, und auch an ihren Bewegungen sah man, dass sie schon etliche Jahre auf dem Buckel hatte. Steif trat sie hinter den Verkaufstisch. Sie lächelte Elvas an und entblößte dabei ein Gebiss mit schiefen und schwarzen Zähnen.
„Iulia Elvas, wie schön, Euch zu sehen! Womit kann ich heute dienen, Iatromaia?“
Alpina kannte das griechische Wort für Obstetrix, hatte es jedoch noch nie als Anrede gehört. Elvas lächelte zurück, die ungewohnte Anrede schien ihr zu gefallen.
„Ich benötige Wurzeln und Blätter der Mandragora, Bilsenkraut und Schlafmohnkapseln. Außerdem das Harz des Schlafmohns - Opium. Hast du das alles da?“
Sitre verzog das Gesicht. „Es tut mir serr leid, Iulia Elvas“, sagte sie mit ihrem eigenartigen Akzent, „Mandragora und Bilsenkraut kann ich Euch bieten, aberr Schlafmohn und Opium habe ich nicht mehrr. Gerrade eben habe ich meinen letzten Rrest verkauft. Ich fürchte, Ihrr müsst warrten, bis ich eine neue Lieferrung bekomme, und das dauert noch, denn die Schifffahrtssaison von Alexandrria überr das Mare Mediterraneum hat gerrade errst wiederr begonnen. Bis die Lieferrung hirr ist, wirrd es Sommerr. Wenn es dringend ist, solltet Ihrr Demetrrios, den Medicus des Valetudinarriums, fragen. Er hat sicherr noch genug, um Euch etwas davon zu verrkaufen, damit Ihrr die Schmerrzen derr Gebärrenden lindern könnt.“
Dann verschwand sie hinter dem Vorhang und holte eine verschlossene Kiste, die sie mit einem Schlüsselring öffnete. Sie nahm ein Blatt eines beidseitig beschriebenen Papyrus, der auf einem Stapel bereits ellenlang geschnittener Blätter lag und faltete geschickt eine Tüte. Dann griff sie sich eine Schreibfeder und tauchte sie in ein Tintenfass. Auf der Tüte umkreiste sie mit der roten Granatapfeltinte einzelne Buchstaben des Textes. H-Y-O-S-C-Y-A-M-U-S. Als sie damit fertig war, griff sie nach einer filigranen Handwaage und legte einige Samenstände des schwarzen Bilsenkrautes in die Waagschale. „Wie viel möchtet Ihrr haben?“
Elvas sah auf die schaukelnde Waage. „Etwa eine Unze bitte, Sitre, und genauso viel von den Blättern und Wurzeln der Mandragora.“
Auch die Tüte für die Pflanzenteile der Madragora beschriftete die Ägypterin auf die gleiche Weise. Dann zahlte Elvas den geforderten Preis und packte die Tüten in ihren Korb. Sie bedankte sich. Als sie sich zum Gehen wandte, stockte die Obstetrix. Sie drehte sich noch einmal um.
„Du hast sicher von der Klage des Essimnus gegen seine Frau Caecina gehört, oder?“ Als Sitre nickte, fuhr Elvas fort. „Sei vorsichtig! Die Ermittler haben Tüten von dir gefunden und eine handgeschriebene Rezeptur. Ein Bestandteil der Rezeptur war Aconitum. Wenn sie herausfinden, dass das Aconitum und die Anleitung aus deinem Laden kommen, sieht es sehr schlecht für dich aus, Sitre! Du weißt, dass für Giftmischerei und Hexerei die Todesstrafe verhängt werden kann?“
Die alte Ägypterin nickte wieder.
„Außerdem hat man ein Fluchtäfelchen gefunden. Stammt es auch von dir?“
Sitre lächelte mit ihren schlechten Zähnen und zuckte die Achseln.
„Ich kann dir nur raten“, sagte Elvas eindringlich, „mache deinen Laden dicht und besuche Freunde in Aegyptus oder sonstwo. Es braut sich ein Gewitter zusammen, und wenn du Pech hast, trifft dich der Blitz, bevor er die arme Caecina trifft!“
***
Wie Caius erwartet hatte, gab Elvas ihr Einverständnis, die Frau des Essimnus aufzunehmen. Sie richtete mit Mirne gemeinsam eine Kammer her, die sonst ihre Eltern bewohnt hatten, wenn sie in der Stadt waren. Dann schickte sie Mirne ins Haus des ehemaligen Quaestors, um Caecinas Leibsklavin zu bitten, einige wichtige Dinge für ihre Herrin zu packen und ins Haus des Achilleus zu bringen.
Caius kam mit Caecina zur siebten Stunde. Die Frau sah schlecht aus. Sie war blass, und ihre sonst immer so kunstvoll hergerichtete Haarpracht hing strähnig über die Schultern. Die Leibdienerin erschien kurz nach ihrer Herrin. Sie war ein junges Ding von etwa siebzehn Jahren. Wie sie berichtete, hatte der Hausherr ihr befohlen, bei seiner Frau zu bleiben. Er schien zu fürchten, dass die Sklavin Geheimnisse aus seinem Haus an die unter Verdacht stehende Gattin ausplaudern könnte. Elvas richtete der Dienerin ein zweites Bett in der Kammer ihrer Herrin her und ließ das Balneum für Caecina herrichten.
Caius hingegen machte sich auf den Weg zum Advocatus Gallus, der die Verteidigung der Gattin des Essimnus übernehmen wollte. Gemeinsam kehrten die Männer zu Caius‘ Haus zurück. Als sie das Atrium betraten, hatte Caecina bereits gebadet, und ihre Haare waren zu einer gefälligen Lockenfrisur gerichtet. Caius überließ dem Advocatus und Caecina das Tablinium für ein Gespräch über die Verteidigungsstrategie.
Als der Advocatus wieder heraus kam, wirkte er bedrückt. Er nahm Caius und Elvas beiseite und bat sie eindringlich, auf Caecina einzuwirken, den Namen der Kräuterfrau preiszugeben, um ihr eigenes Leben zu retten. Dann machte er sich auf den Weg ins Praetorium, um die Beweismittel der Anklage einzusehen.
Der Centurio setzte sich mit seiner Frau zu Caecina ins Tablinium. Die dunkelhaarige Römerin weinte.
„Was soll ich nur tun, lieber Caius? Soll ich eine weitere Frau ins Unglück stürzen? Reicht es nicht aus, dass mein Leben verwirkt ist?“
Caius hob die Schultern. „Wenn Gallus sagt, dass das die einzige Hoffnung ist, einer Verurteilung zu entgehen, solltest du es schon erwägen. Du weißt, dass Hexerei schwer bestraft wird?“
Caecina nickte. „Aber was bringt es? Ich werde wegen Mordversuchs in jedem Fall verurteilt, da führt doch kein Weg vorbei. Ob ich dann auch noch wegen Giftmischerei und Hexerei angeklagt werde oder nicht … was soll’s?“
Der Centurio hob mahnend den Finger. „Es ist wohl ein Unterschied! Du könntest für diese vielen Vorwürfe die Todesstrafe erhalten. Für den Mordversuch, den man dir zur Last legen wird, dürfte mit etwas Glück und diplomatischen Geschick die Ächtung oder Verbannung ausgesprochen werden.“
Tränen rannen über Caecinas Wangen. Sie war sicher nicht