In einer fernen Zeit. Elena Risso. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elena Risso
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738001594
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runden. Sie saß hinter einem schweren Tisch und las bei einem Gast aus der Hand. Sie ging sehr vorsichtig damit um, sie blickte weit in die Zukunft. Es war ihr tägliches Geschäft mit Seelenfreude und Seelenleid anderer Menschen umzugehen. Ihr Gegenüber war ein junges Mädchen. Das Mädchen wollte wie alle Mädchen wissen, ob ihr die wahre Liebe in ihrem Leben begegnen würde. Das Mädchen sah Rosa ebenfalls ähnlich. Die Hellseherin sah in ihren Händen ein bewegtes Leben, das anfänglich sehr unstet sein würde und das im Laufe der Jahre zu einer ganz eigenen, sicheren Gelassenheit führen würde. Dass sie das Leben genießen lernen konnte, und dass Genuss für sie Leben bedeuten würde. Und dann, wenn der Weg breit und eben werden würde, könne sie auch die Liebe sehen und erfahren. Die Hellseherin war schon älter und blickte weise und gütig in ihre jungen Augen, als sie noch ein junges Mädchen war. Rosa sah sich selbst. Sie hatte eine Ahnung von den unsichtbaren Dingen in dieser Welt.

      Als das junge Mädchen gegangen war, kam ein junger Mann mit einem blauen Turban zu ihr ins Zelt. Diesen Traum kannte Rosa noch von ihren Kindheitstagen. Er blieb beim Eingang stehen, die Sonne im Rücken ließ ihn im Lichterkranz erstrahlen. Leider konnte die Hellseherin seine Augen nicht erkennen, stellte er sich doch nur kurz vor, um dann augenblicklich wieder zu verschwinden: „Ich bin Shakhil. Sha, das ist der Zauber in der Liebe, das Öffnen der wahren Gefühle und der inneren Sehnsucht. Sha heißt, das Leben zuzulassen. Khil, das ist das übersinnliche Ich, die göttliche Energie und bedeutet die Befreiung von Begierde und Erwartungen. Khil ermöglicht die eigene Unabhängigkeit. Khil ist die Vervollkommnung, mit der die wahre Erkenntnis über sich selbst kommt. Nur mit Sha und Khil kommt die Fähigkeit zur bedingungslosen, aufrichtigen Liebe. Suche mich!“

      Sie wusste gar nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als Aurora vor ihrem Bett mit einer Tasse dampfenden Tee und süßen Keksen stand. „Meine Freunde wollen dich kennen lernen. Sie finden, dass du mit zwölf Stunden lange genug geschlafen hast.“ „Ich hatte einen Traum, darin begegnete mir die östliche Weisheit in Form eines männlichen Wesens mit Namen „Shakhil“. Aurora, wenn du Shakhil kennst, mach mich bitte mit ihm bekannt; ich möchte wissen, wer er ist und wie mein Traum weitergeht.“

       Kapitel 15: Shakhil zwischen Traum und Wirklichkeit, Teil 1 - Liebe

      Alle Verwandten waren auf der Terrasse versammelt. Man hatte von dort einen wundervollen Blick über baumgesäumte Hänge und karge Felsvorsprünge bis zum Stadtrand hinunter, wo Hochhäuser mit dem Grau des Himmels verschwammen. Malcom saß tief versunken mit gekreuzten Beinen auf der Mauer, die die großflächige Terrasse vom Abhang trennte, den Blick ins Tal gerichtet. Seine Augen erinnerten Rosa an ihre Kindheit, sie strahlten und visierten scheinbar ein neues Ziel. Rosa hatte den Eindruck, er war angekommen.

      Rosa ging zu ihm. „Oh, Rosa es ist so wundervoll hier; ich hätte mir das nie träumen lassen. Ich bin zu Hause. Auroras Onkel aus Islamabad möchte mich als Fahrer einstellen. Er unterhält in Neu-Dehli ein Bauunternehmen und möchte wieder nach Indien zurückkehren. Da braucht er einen Fahrer.“ Malcom blickte tief in Rosas Augen. Seine Träume konnten in Indien wahr werden. Rosa war ein wenig traurig. Nun würde sie wieder von ihm getrennt sein, gerade jetzt, da sie sich, auch durch ihn, stärker fühlte und sicherer. Sie setzte sich auch auf die Mauer und drückte sich an Malcom. In der Ferne verschwamm der Horizont mit der Skyline noch stärker. Es war alles grau in grau und ein modriger Geruch kam von der Stadt nach oben. Etwas widerte Rosa an. Auf einmal wollte sie wieder nach Hause. Onkel Radul kam auf die beiden zu. Mit direkten Schritten. „Malcom, morgen gegen Mittag zeig ich dir mein Unternehmen und den Wagen, den du fährst.“ Onkel Radul war dick. Eine fette Zigarre steckte zwischen seinen wulstigen, dunkelroten Lippen. Rosa wollte gerade wieder gehen; ihm ausweichen. „Hey Rosa, ich habe schon viel von dir gehört. Komm doch morgen auch mit, schau dich um. Lerne Indien kennen, unsere Realität.“ Rosa verabschiedete sich von Malcom. „Du wirst nie wieder in den Big Apple zurückkehren, oder?“ „Rosa, meine Suche ist nun beendet. Ich hatte eine glückliche Kindheit, ich habe außergewöhnliche Fähigkeiten, ich liebe die Spiritualität. Diese Reise nach Indien hat mir die Augen geöffnet.“ Rosa stand auf, sie schwankte. Aurora hatte zwei Freundinnen im Schlepptau, mit denen sie auf Rosa zueilte, die weit weg schien. „Rosa, das ist Feli und das ist Leya - wir sind zusammen in die Schule gegangen. Komm, wir zeigen dir das Haus.“ Rosa hatte ihr Gleichgewicht noch nicht wieder gewonnen und kippte nun vorn über die kleine Mauer den Abhang hinunter. Sie kullerte wie ein Fass in Richtung Skyline. Alle schrien durcheinander. Die Masse setzte sich in Bewegung, um Rosa so schnell es ging zu folgen. Onkel Radul setzte mit jedem Schritt den Hügel in Schwingungen; Aurora war leichtfüßig und schwebte geradezu, ihre Arme weit auseinandergebreitet, die Haare flatterten im Wind.

      Malcom, der als erster lief, sorgte sich sehr. Rosa in ihrem weißen Sari blieb zwischen verdorrten Büschen liegen, ihre roten Haare hoben sich vom Grau des Bodens ab. Sie war ohnmächtig geworden. Malcom drehte sie herum, flüsterte ihren Namen und hob sie auf. Er trug sie, den Hang nach oben. Sie hing schlaff in seinen Armen, als wäre alles Leben aus ihr gewichen. Indien. Ein Traum. Eine Realität. Eine Phantasie. Oben angekommen, schlug sie die blauen Augen auf. Sie strahlten. „Malcom, führe mich zu Shakhil.“

      Shakhil war Weissager und Schriftsteller. Er lebte im Moslemviertel, einem völlig neu entstandenen Viertel, das auf Sand gebaut war. Shakhil war in Indien ein Heiliger. Rosa war noch nicht in dieser Welt. Malcom brachte sie ins Haus in eine der Schlafzimmer mit dicken Vorhängen, die das Sonnenlicht draußen ließen. Vor den großen Fenstern waren beige Seidenschals. In mitten des Raumes stand ein Himmelbett, das ebenfalls mit weißen Stoffen abgedeckt war, kam Rosa zu sich. Sie hatte große Schmerzen im Rücken und in den Hüften. Ein Arzt war bereits gerufen. „Ich bringe dich zu Shakhil, wenn der Arzt dich untersucht hat, okay?“ Das war nun Indien. Rosa war irgendwie auch wütend. Das war nicht ihre Welt. Sobald sie Shakhil getroffen hatte, wollte sie zurückfliegen. Der Schmerz nahm wieder zu, so dass sie sogleich wieder in eine Ohnmacht fiel. Nach einer eingehenden Untersuchung konnten alle aufatmen. Sie hatte sich starke Prellungen zugezogen. Es war nichts gebrochen. Etwas Besorgniserregend war ihr Geisteszustand. Rosa phantasierte schon wieder von Shakhil. Sie wirkte nicht nur abwesend, sondern auch vollends entkräftet. Das war alles zu viel für sie. Sie konnte die Eindrücke nicht verarbeiten. Malcom machte kalte Umschläge und sprach beruhigend auf sie ein. Da Rosa zwei Monate in Indien bleiben wollte, hoffte Malcom, ihre Reisefähigkeit rechtzeitig wieder herzustellen. Eine leichte Brise kam von den geöffneten Fenstern herein, außen war die Abendluft seidig und mild. Malcom war traurig, er fühlte sich verantwortlich. Schon in England und New York hatte er sie enttäuscht. Sie waren sich zu ähnlich und taten sich damit immer wieder weh. Viele Hätte-und-Wäre-Wenns gingen in seinem Kopf herum, doch das alles half nichts. Es ging um Rosas Seelenfrieden, um nichts anderes. Warum hatte er sie nur hierher fahren lassen? Warum ist er selbst mit? Alle Dinge im Leben, die passieren, haben einen Grund und ihre Berechtigung. Rosa liebte Malcom, auf welche Art auch immer. Und er liebte sie auch. Beide konnten mit dieser Liebe nicht umgehen. Die Katastrophe war nun da. Rosa lag vor ihm, halb am Leben, halb im Reich der Unendlichkeit. Er wachte die ganze Nacht an ihrem Bett und zermarterte sich den Kopf. Shakhil könnte sie weiter verwirren oder ihr Halt geben. Jetzt blieb Malcom hier, er wollte nie wieder nach New York zurück; wie er diese Stadt hasste. Dort war er ein Nichts. Immer wollte er mehr vom Leben. Erwartete zu viel, verletzte seine Lieben und die, die es ehrlich mit ihm meinten. Eigentlich ein Nobody, ein Loser. Wann würde das Rosa endlich sehen? Endlich wahrhaben wollen?

      Rosa träumte wildes Zeug. Sie war wieder diese alte Frau, die den Leuten, die ihr wiederum ähnlich sahen, die Zukunft voraussagte. Etwas Mystisches und schon von alters her Dagewesenes umgab sie. Es ängstigte sie, und das immer wieder kehrende eines Leierkastens beunruhigte sie. Sie phantasierte, weil sie nun auch Fieber hatte. Malcom hielt das nicht länger aus. Wie schon so oft in seinem Leben, löste er Sorgen und Probleme, indem er einfach verschwand. So ging Malcom am frühen Morgen für immer fort. Er hinterließ ein Schreiben, in dem er Rosa sein Apartment in Brooklyn mit einem einfachen Lebewohl überschrieb.

      Am frühen Morgen wurde Rosa wach. Das Fieber ließ etwas nach, was ihr half, ein wenig klarer im Kopf zu werden. Aurora war in ihrer Nähe und brachte ihr frisches Wasser. Ihre Realität war ein Leben ohne Malcom und ein Leben um des Lebens willen und dass sie jetzt absolut nichts wissen musste. Sie musste