„Helene," lächelte Marie, „Du darfst mich nicht mehr mit meinem Aethertraum necken und mit dem alten Herrn Quetzlinberger und der Frau Bause."
Der Famulus zuckte bei Nennung der Namen zusammen und hörte mit Spielen auf; endlich sagte er langsam:
„Die Frau Bause? - Kennen Sie die denn auch?"
„Warum sollen wir sie nicht kennen?" sagte Helene; /54/ „wohnt sie nicht hier in der Stadt, und prophezeit sie den Leuten nicht, die zu ihr kommen?"
Schwiebus sah wohl ein paar Minuten lang still und schweigend vor sich nieder, ohne irgend etwas darauf zu erwidern. Dann griff er sein Instrument wieder auf, und die Worte mit den leisen Tönen begleitend, fuhr er langsam fort:
„Die Frau Bause ist eine gar würdige alte Dame, die schon etwas durchgemacht hat in der Welt - mehr, als sich manche Menschen vielleicht träumen lasten. Wenn die erzählen wollte, müßte es gar interessant sein, zuzuhören, aber" - und wieder sprangen die Töne in die frühere schrille und schroffe Weise über, und er lachte dabei still und unheimlich vor sich hin - „sie darf nur nicht."
„Und das ist auch nicht mehr als recht!" rief Marie. - „Mutter hat noch neulich davon gesprochen, daß die Polizei das Prophezeien und Kartenlegen eigentlich gar nicht dulden sollte. Einzelne, zufällig eingetroffene Sachen machen die Leute nur verwirrt. Viele setzen sich tolle Ideen in's Hirn - lassen sich ihren Todestag sagen und sterben zur prophezeiten Stunde, nur weil sie sich so entsetzlich davor gefürchtet. Andere treiben andern Unsinn, der ihr Vermögen oder ihre Gesundheit ruinirt, um einem geweissagten Unglück auszuweichen oder ein versprochenes Glück zu erjagen. Der liebe Gott hat es gar unendlich weise eingerichtet, daß uns nicht allein die ferne Zukunft, nein, schon die nächste Stunde ein verschlossenes, unberührbares Buch bleibt. Ich würde nie die Hand danach ausstrecken, es zu öffnen."
Schwiebus hatte das junge Mädchen indessen mit hoch aufgezogenen Brauen, weit ausgespitzten Lippen und einem unendlich komischen Ausdruck in den wunderlichen Zügen stier angesehen. Die Violine stützte er dabei, um besser hören zu können, auf sein linkes Knie, während die rechte Hand mit dem Bogen auf dem andern ruhte.
„Die Polizei," sagte er, als sie geendet, leise, und über die immer dunkler werdenden Züge zuckte und blitzte es in eigenen wunderlichen Lichtern - „die - die Polizei." - Und er schüttelte sich plötzlich, ohne aber einen weiteren Laut /55/ von sich zu geben, so vor innerem Lachen, daß es ordentlich aussah, als ob ihm die Glieder locker würden.
„Nun ja, was ist denn darin so Komisches, Herr Schwiebus?" sagte Marie erstaunt; „hat denn die Polizei nicht das Recht, Leuten, die ein ordentliches Gewerbe daraus machen, leichtgläubigen Menschen das Geld aus der Tasche zu locken, das Prophezeien zu verbieten?"
Schwiebus nickte wieder und wieder rasch mit dem Kopfe, als ob ihm das innere Lachen fast die Stimme ersticke, und nur endlich sagte er heiser und von öfterem Husten unterbrochen:
„Ja - verbieten kann sie's - verbieten kann sie‘s, die - die Polizei. Schwiebus kann auch dem Laubfrosch verbieten, daß er bei schlechtem Wetter in's Wasser geht."
„Aber, Schwiebus," lachte Helene, „Sie wollen doch nicht alte Frauen, die einen Erwerb daraus machen, andere Leute anzuführen, mit etwas vergleichen, dem die Natur schon den Instinct für das Wetter wenigstens gegeben hat? Ja, wenn die Frau Bause so gut prophezeien könnte wie ein Laubfrosch!"
„Hm - würde ihr sehr angenehm sein, das zu hören," lachte der Famulus wieder auf seine stille Weise - „würde ihr ungemein angenehm sein." Er blinzelte dabei mit dem linken Auge, den Kopf halb dem Fenster zugewandt, immer nach dort hinüber, als ob da draußen Jemand säße, mit dem er sich unendlich über den Spaß freue und der ganz einverstanden mit ihm wäre.
„Sie sind ein komischer Kauz," sagte lächelnd Helene und schraubte die Lampe etwas höher, daß sie heller brannte. „Ob übrigens die Frau Bause prophezeien kann oder nicht, soll mich wenig kümmern, ich werde ihre Künste doch nicht in Anspruch nehmen. - Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben."
„Scherz?" sagte der Famulus und wurde auf einmal ganz ernsthaft, „Scherz? - wer hat von Scherz gesprochen? - Wer sich einen Spaß zu machen wünscht, soll um Gottes willen andere Sachen wählen, als die Geister einer andern Welt zu incommodiren. Es thut nicht gut, und wir kommen /56/ mit ihnen schon weit mehr, als rathsam, in unseren Träumen zusammen."
„In unseren Träumen?" rief Marie rasch, die in den Worten eine Art Bestätigung für Manches zu finden glaubte, dem sie sich selber, sie mochte sich dagegen sträuben, so viel sie wollte, hinzuneigen begann. - „Also halten Sie unsere Träume auch für etwas Wirkliches?"
„Unsinn!" rief Helene lachend; „wenn die etwas Wirkliches sind, so bin ich vor vierzehn Tagen vom Thurme der Dorotheenkirche über die ganze Stadt fortgeflogen und nachher in den Schwanenweiher gefallen, und wie ich aufwachte, lag ich doch warm und weich in meinem Bette."
„Ihr Körper," erwiderte Schwiebus trocken - „Ihr Körper lag im Bette, Fräulein Helene, und der hatte mit der Sache auch weiter nichts zu thun. Ein Körper kann, wie sich das von selbst versteht, nicht träumen, und was der Geist unter der Zeit treibt, wo er den Körper verlassen hat, davon sagt er ihm gewöhnlich nichts. Nur die Seele, die indessen natürlich zu Hause bleibt, verräth es ihm manchmal."
„Die Seele?" riefen Helene und Marie fast zu gleicher Zeit aus; „so machen Sie einen Unterschied zwischen den beiden, die Sie für zwei ganz verschiedene Wesen zu halten scheinen?"
„Und sind sie das nicht?" lächelte der Famulus. „Eine Seele dürfen wir selbst dem Thiere nicht absprechen, dem wir keinen Geist gestatten. Der Geist mag den Körper im Schlafe verlassen, und den Beweis haben wir, wie er in der Zeit durch ferne Räume schweift. Die Seele dagegen muß den allgemeinen Naturgesetzen nach im Körper bleiben, ob er schläft oder wacht. Sobald sie ihn verläßt, ist er todt - bis sie zu ihm zurückgekehrt" - setzte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu.
„Aber sobald sie ihn einmal verlassen, kann sie nie mehr zurück!" rief Marie. „Todte müßten ja sonst wieder zum Leben erstehen."
„Und geschieht das nicht bisweilen?" sagte der Famulus.
„Scheintodte, ja."
„Gut, wir nennen sie Scheintodte!" rief der Famu-/57/lus kopfschüttelnd. „Der Name thut nichts zur Sache, und - sind noch keine solche Scheintodte beerdigt worden?"
„Oh Gott, ja!" rief Helene schaudernd -„selbst in unserer Familie haben wir ein derartiges furchtbares Beispiel."
„In Deiner Familie?" fragte Marie überrascht; „davon hast Du mir ja noch nie erzählt!"
„Wer spricht gern von so Entsetzlichem!"
Der Famulus stemmte die Geige wieder an die Schulter, und eine neue, aber leise Melodie beginnend, um das Gespräch nicht zu stören, sagte er langsam:
„Auch das Entsetzliche wird interessant, sobald es mit dazu dient, die Kenntnisse zu vermehren, an deren Schwelle wir noch stehen - die Kenntnisse jener Welt, von der die Wenigen, die wirklich etwas davon wissen, eben nichts, oder doch so gut wie nichts, verrathen dürfen."
„Also glauben Sie in vollem Ernst, Schwiebus," fragte ihn Helene, „daß hier wirklich Leute auf unserer Erde, in unserer Mitte leben, die etwas von jener andern geheimnißvollen Welt sagen könnten, wenn sie nur eben dürften?"
Der Famulus erwiderte nichts darauf, aber die Töne seiner Geige schnitten wie ein Weheruf in das Ohr der Mädchen.