Zwischenräume im Tagebuch von Jeannine Laube-Moser. Wilhelm Kastberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Kastberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775511
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sagte frei heraus und ohne mit meiner falschen Wimper zu zucken: "Das ist doch klar Doktorchen. Schau mal, ich habe viertausendachthundertfünfundzwanzig durch Donnerstag geteilt."

      Dann bin ich kerzengerade im Bett gesessen, den Kopf voller Mathematik, das Notizbuch geholt und den Traum zügig aufgeschrieben. Es kann nur sein, dass ich ein paar Eckdaten vergessen habe.

      Zeitweilig gelingt es mir ja, Seile zur Verbindung im mitmenschlichen Bereich zweckdienlich zu spannen. Das ist in meiner Gedankenvorstellung auch eine Brücke. Was sollte es sonst sein!

      Ich entsinne mich noch recht gut. Es war einmal in längst vergangenen Nächten, da erschien mir ein fremder unbekannter Mann und der knüpfte eigens für mich einen Bindefaden. Du weißt schon, so ein buntes Ding vielleicht, das man an Freunde verteilen kann. Aber so etwas war es schlussendlich dann auch nicht. Dieser Unbekannte versuchte irgendwie eine doch nicht unbeträchtliche Distanz, eines bislang von mir niemals vermuteten Zwischenraumes, zu überbrücken. Und zwar tat er das mithilfe einer doppelt so großen Ansichtskarte, wie sie heutzutage kaum üblich sind. So ein Monstrum von einer Karte habe ich weder beim Hofer noch beim Lidl oder gar beim Kaspar Oberhauser gesehen.

      Du wirst wahrscheinlich mit dem Kaspar Oberhauser noch keinen Kontakt gehabt haben. Er ist nämlich der eigenverantwortliche Filialleiter von unserem Supermarkt. Sozusagen der löbliche Nahversorger und wahrscheinlich fallweise sogar der Hahn im Korb bei einigen Kundinnen. Wenn wir den Kaspar Oberhauser mit seinen drei Angestellten nicht hätten, da würden wir ganz schön unterm Platzregen zu leiden haben. Der nächste SPAR-Einkaufsladen ist immerhin fünf Kilometer weit von meiner Wohnung beziehungsweise von unserem Dorf entfernt. Dorthin soll sich der Spur Sepp verdrücken, wenn er Gusto auf eine Braunschweiger verspürt.

      Doch bleiben wir beim Kaspar Oberhauser. Er schaut auf seine Kundschaft, vorwiegend auf die hübsche Weiblichkeit und damit auch auf sich selbst. Ich dürfte wahrscheinlich den Grenzwert seiner Begehrlichkeiten schon überschritten haben.

      Kaspar Oberhauser mit seinen fünfunddreißig Lebensjahren und gut einen Meter achtzig, wurde sogar als zweiter Brandschutzmeister bei unserer Feuerwehr eingestellt. Weil anbrennen lässt er als cleverer Dorfbewohner kaum etwas. Dafür umsorgt er nach seinen Einsätzen im Revier und freilich auch nach dem übervorsichtigen Hinausgrasen, umso mehr seine liebe, aber strengkatholische und deswegen auch eifersuchtsanfällige Ehefrau.

      Mein lieber Schwan, die müht sich Tag für Tag, nicht nur wegen ihrer übertragenen Erziehungsaufgaben der ehelichen Kinder ab, sondern sie sitzt, wenn ihr die Zeit gnädig ist, auch an der Kassa im Geschäft und kurbelt dort ihr Geschick, wie eine alleinherrschende Gebieterin, zu Höchstformen an. Die Schnelligkeit ihrer eingesetzten Zieh- und Fliehkräfte sind weitum bekannt. Mit einer fast königlich anmutenden Verbissenheit bemüht sie sich tagtäglich, zum Beispiel Obst oder plastikverpackte Gartenerde mit brachialer Kraftanstrengung an der elektronischen Registrierkasse vorbeizuziehen, was freilich auch Spuren hinterlässt.

      Inzwischen sind ihre Tätigkeiten bereits zum dorfeigenen Kult angewachsen. Das kannst Du mir glauben.

      Viele Kunden kommen aus den Nachbardörfern nicht nur wegen der aktuellen Sonderangebote von Minus was weiß ich was, sondern sie wollen das leidenschaftslose, in vertikalen Stirn- und Zornesfalten verunzierte Gesicht der Trude Oberhauser bei ihrem Kassascannen betrachten.

      Jedenfalls ist es für die Beobachter immer interessant zu beobachten, wie sie fortwährend Hunderte von kiloschweren Waren hin und herschiebt und die Euros so nebenbei einkassiert. Erstklassig, das kann man wohl sagen, war ihr Verhältnis zur Registrierkassenverordnung. Der fabrikneue Scanner bewältigt seine Arbeit mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, die sie selbst kaum zu überbieten vermochte. Und was der noch alles zusätzlich zu leisten imstande ist, da kann ich wirklich nur sagen - Kopftuch ab. Ich als Kunde trage zwar selten eines und Hut schon überhaupt nicht. Andererseits habe ich auch keine Chance zu so einem Gerät, welches in Bruchteilen einer Zeit die Einzelpreise zu einer Gesamtsumme verbinden kann und nur manches Mal bei Stromausfall ordentlich danebenhaut. Dann gelingt ihr das Meisterstück der Rechenkunst. Zum Beispiel schnellt das Angebot für den Salat statt um einen Euro fünfundzwanzig auf unverhältnismäßige achtundvierzig Euro und zweiundfünfzig Cent hinauf.

      Trude Oberhauser ist die eigentliche Konzessionsinhaberin. Sie hatte seinerzeit das Geschäft von ihren bereits verstorbenen Eltern übernommen und hat nach der Verehelichung mit ihrem Kasperl, ihn zum alleinigen Geschäftsführer befördert. Seither spielt er den großen Boss. Sie selbst muss halt gelegentlich regulierend eingreifen. Zum einen, als die untergebene Kassenaushilfsjongleurin sowie selbstverständlich auch als Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern.

      Na ja, jetzt ist es wieder einmal geschehen. Ich bin von der außergewöhnlich großen Ansichtskarte, die ich in meinem Briefkasten gefunden habe, total auf ein anderes Gleis abgefahren. Bekommen habe ich sie am Donnerstag, die Karte. Weil ich mittwochs grundsätzlich nie Post bekommen kann, schon aus dem einfachen Grund, weil die Postbotin ihre Revierfreizone strikte einhalten muss. Daher wird es der Donnerstag gewesen sein. Nur beschwören könnte ich das auch nicht.

      Du ahnst es bestimmt schon und ich weiß es ja. Ich habe halt ein Zeitgefühl wie ein Elefant in der Arktis. Und in der Geografie kenne ich mich genauso gut aus. Also nochmals für Dich zur Erinnerung.

      Die Ansichtskarte wurde von Portugal hierher bis zu mir ins Postkastl befördert. Das dauerte gewiss eine halbe Ewigkeit. Die Postgeschwindigkeit, ein eigener Begriff in der EU-Verwaltung innerhalb der Europäischen Staatengemeinschaft, soll ja in den nächsten Jahren, jedenfalls bis zwanzig-zwanzig um ein Vielfaches erhöht werden.

      Vorne war zweifelsfrei eine mittelgroße Stadt abgebildet. Fermentelos. Der Schriftzug war nur mit einer Lesehilfe erkennbar. Eigentlich bestand die Vorderansicht aus sechs gleich großen Fotos. Das Siebte im Zentrum war um eine Spur größer. Auf einem war einigermaßen den Stadtkern mit der Basilika zu erkennen.

      In der unteren Reihe waren Landschaftsbilder aus der näheren Umgebung zu sehen. Für mich jedenfalls war das Bild rechts unten am Auffälligsten. Ein Binnensee aus der Vogelperspektive. In meiner Fantasie hatte der eine Ähnlichkeit mit den Umrissen der italienischen Stiefelform. Und überall gab es jede Menge Weingärten, genauso wie bei uns im Burgenland oder im Weinviertel.

      Nur das in meinen Augen Ausgefallenste war das Bild in der Mitte. Der spontane Eindruck für mich jedenfalls war: „Das ist ein Gurkerl in Paradeuniform.“

      Es haben nicht nur meine Gedanken spitzbübisch lachen müssen. Nein! Du wirst mich gleich verstehen. Du musst nur für einen ganz kurzen Moment das Rollo Deiner Pupillen herunterlassen. Ja genauso! Dann könntest Du Dir mit aller Wahrscheinlichkeit ein Gurkerl, zwar nicht im Essigglas, sondern in aufgepeppter Paradeuniform sowieso nicht vorstellen.

      Also pass obacht. Das Gurkerl ist quasi ein gepfropfter kleiner Zwerg, ohne Hals und ohne Bauchansatz, dafür aber Stielaugen wie ein Kalb vor dem Gang zum Metzger. Obendrauf eine Art von Kopfbedeckung, dass aber nur dann zutreffen würde, wenn es darunter so etwas wie einen Schädel gegeben hätte. Das war´s nicht. Um die Mitte des Gurkerl´s straffte sich ein Lederriemengürtel oder so was Ähnliches. Der war mit einer wahrscheinlich metallenen Kompassschnalle verziert, die hosenabwärts eine anschauliche Paradeuniform zusammenhält. Uniform und Kopfbedeckung waren farbgleich gehalten. Auf der einen Seite in einem leuchteten Oxyd Grün. Ein Orangerot auf der anderen. Zwei extrakleine Gurkerl-Hände versuchten offenbar krampfhaft irgendwelche undefinierbare Souvenirartikel, vielleicht war es noch ein Kompass, was weiß ich, vom großen Gurkerl-Leib fernzuhalten.

      Unter dem Bild konnte ich in deutscher Sprache den Hinweis ganz gut lesen: Das Wahrzeichen von Fermentelos.

      Der Text, auf der Rückseite von der Ansichtskarte, war handgeschrieben und einigermaßen gut leserlich. Das war für mich dann doch das wirklich Wichtige daran. Überrascht war ich ja schon, als ich die Karte aus meinem Briefkastenfach herausfischte. Umso mehr steigerte sich meine Überraschung ins schier Unermessliche, als ich schließlich versucht habe, die Wörter zu lesen. Ich musste aber notgedrungen diese Mischkulanz zuerst in eine Reihe und dann in einen sinnreichen Zusammenhang stellen. Im Stiegenhaus blieb ich halt auf der einen oder anderen Stufe stehen, um nachzudenken, was das alles zu bedeuten