Zwischenräume im Tagebuch von Jeannine Laube-Moser. Wilhelm Kastberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Kastberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775511
Скачать книгу
Vor allem in letzter Zeit, wo ich, von wem oder warum auch immer, genötigt worden bin, über das anhaftende Brückenbausyndrom am Traumweg zu erscheinen. Diese Brücke nach Venedig, von der vorhin die Rede war, war eine sehr eigenwillige. Ich musste sie wahrscheinlich auf Pfähle gesetzt haben, weil die Reise dorthin sich in meinem Unterbewusstsein so verheddert haben dürfte, dass ein Transport in die höher gelegene Etage des Realbewussten unkompliziert verlaufen ist.

      Durchaus gäbe es Unmengen über meine virtuellen Brücken zu erzählen. Ich denke mir, eine meiner zahlreichen im Traum herbeigewünschten Konstruktionen, könnte für Dich bedeutsam sein. Die habe ich bislang auch noch nicht abgetragen und auch bisher niemanden davon erzählt. Du und mein Tagebuch werden die Ersten sein.

      Es ist schon eine Zeitlang her. Aber es war für mich damals durchaus wieder einmal eine besonders anstrengende Nacht. Das kannst Du mir glauben. Sozusagen eine Art von Illusion tauchte aus dem fernen Horizont neben mir plötzlich auf. Es war eine außerordentlich hübsche junge Frau mit einem jugendlichen Gesicht. Na ja, was soll ich sagen: Die kommt auf mich zugeschwebt. Genau, wie im Märchen! Sie machte mir ein verblüffendes Angebot. Ich hätte zwei Wünsche frei, raunte sie mir zu. Sie wusste offenbar von meinen nächtlich aktiven Mitgefühlen, die bei mir im Brückenbau stets als tragende Pfeiler eingesetzt werden. Deshalb war es auch für das schöne Fantasiegebilde keine Überraschung, als ich mit einer mir ungewöhnlichen, ja beinahe eingedämmten, zögernden Stimmlage meinen Wunsch genannt haben dürfte.

      `Ich würde mir sehr gerne - eine gutbrauchbare Brücke - für alle Menschen von hier nach Venedig in die Stadt meiner Träume wünschen.` Die letzten Worte dürfte ich so schnell herausgesprudelt haben, dass sie in meinem Gedächtnis unauffindbar geworden sind. Hier habe ich nur eine Art von logischer Ergänzung angefügt. Ob ich damit richtig liege oder eben falsch, das weiß ich nicht.

      Jedenfalls die von mir immer noch wahrgenommene flatternde Einbildung fuchtelte wie eine wildgewordene Gans in der Luft herum. Der unerwartete Ablehnungsbescheid kam auf der Stelle. Ich fühlte mich wahrscheinlich unter meiner Bettdecke, die ich wiederum nicht gefühlt haben dürfte, enttäuscht.

      Offenbar sehr zögerlich durfte ich den zweiten Wunsch formulieren. Zugegeben, der hätte mit dem Brückenbau nur im Entferntesten in Zusammenhang gebracht werden können. Vermutlich war ich nur neugierig auf die Reaktion einer Illusion. Blitzschnell erträumte ich einen verwegenen Wunschgedanken, der vermutlich irgendwo auf einer Ablage in einem Magazin in meiner hintersten Gedächtnisabteilung verstaubt auf Befreiung gelauert hatte. Unbedacht versuchte ich diesen an meine Traumpartnerin zu übertragen.

      `Ich würde mir sehr gerne wünschen, das System der Gedankenüberbrückungen von den Männern kennenzulernen.`

      Sicher bin ich mir nicht, ob ich das Wort für Wort so gesagt habe. Allem Anschein nach dürfte es schon so gewesen sein. Zumindest in ähnlicher Modulation versuchte ich, ihr den Wunsch mithilfe meiner Gedankenübertragung mitzuteilen.

      Eine Schamesröte dürfte mir jedoch über mein nachtbleiches Gesicht gehaucht sein. Es ist mir aber bis heute total schleierhaft, wie ich überhaupt, wenn auch nur in einem Traum, auf so ein utopisches Stillleben einer Erkundungsabsicht gekommen bin.

      Als professionelle Brückenbauerin im freien Land der Emanzipationen kann man so ein tiefgründiges Sehnsuchtsbild, noch dazu, wenn man aufgefordert wird, wohl auch äußern dürfen. Oder?

      Die scheinbar von Mystik umgebende, ferner noch Wünsche anbietende, strahlende junge Frauengestalt tänzelte ein paar Mal mit ihrem wehenden seidenen, in verschiedenen Farben getöntem Kleid um mich herum. Währenddessen zog sie gekonnt, wie eine Schauspielerin auf einer Weltbühne, ihre zwei weißen Handschuhe aus. Sodann schwebten plötzlich ein Bleistift und ein Block in ihre von Zauber umstrahlten Hände. Blitzschnell rechnete sie und drehte sich danach langsam vor meinen Augen mehrmals um ihre eigene Achse.

      Nach diesem Zaubertanz fuhr sie mit den behandschuhten Händen durch ihre glänzenden langlockigen, keineswegs blendend blonden, aber sehr leuchtend hellen Haare hindurch. Immer wieder bewegte sie ihren Kopf hin und her und hin und her. Dann geschah es! Mit einem Ruck hob sie sich mit den Zehenspitzen vom Boden ein Stück weit ab, drehte sich nochmals und schaute mich mit ihren großen Kulleraugen an. Beinahe sah es so aus, als würde sie auf der Stelle von fremden Kräften umgestimmt werden.

      `Schani,` flüsterte sie mir zu, `sollte die Brücke nach Venedig auch mit Zusatzbeleuchtungen und überdacht, oder besser sogar, drei- statt zweispurig errichtet werden?`

      Im Moment überragender Begeisterung wartete meine Zustimmung noch eine kleine Weile. Im Hintergrund verborgen blieb das mahnende ICH. Erstmals unbeachtet. Von Kräften einer unbestimmten Macht wird es regelrecht abgedrängt und dem ängstlichen Brückenbauer wird von der erbarmungslosen Entscheidung des einfallenden JA überrascht. Das beidseitige Wohlwollen wird in dieser Szene brüderlich vermerkt werden. Nur das gemeine ICH, vom Übermut betrunken gemacht, schreit abermals JA.

      Schweißnass kroch ich aus dem Bett heraus! Es war genau vier Uhr und neunzehn Minuten. Den Brückenbau nach Venedig habe ich vollendet und seit dieser Zeit nie mehr davon geträumt.

      Ein wenig schwanken, zwischen Ahnung und Prophezeiung, darf ich ja noch! Das ist nichts Abwegiges. Auch das Träumen gehört irgendwie dazu.

      Schau mal, für Traumforscher würden meine wirren nächtlichen Schwärmereien, in denen ich mit dem Brückenbauen scheinbar die halbe Nacht eine Vollzeitbeschäftigung angenommen habe, einen regelrechten Fundus an Erkenntnissen bedeuten.

      Eines kann ich Dir ja noch verraten, ohne dass die Schamesröte über meinen Rücken von unten nach oben ziehen muss. Ich meine hier genau jenen Bereich, wo bei den meisten Menschen die Hauptleitung ihrer veganen Hirnströme in Richtung Blasenausgang eingepflanzt sind. Na, ja, und die dann halt keine Ruhe nicht geben, wenn´s einmal pressiert.

      Du verstehst mich schon. Oder?

      Also ich verrate Dir jetzt ein Geheimnis: In meinem Wohnzimmerschrank, in der zweiten unteren Schublade, liegt, zwar nicht immer, aber größtenteils schon, unter den Kontoauszügen meiner Zentralbank, gut versteckt ein rotgedeckelter Notizblock. Darin habe ich einige meiner Träume bereits aufgeschrieben. Allerdings in einer Reihenfolge, von der ich überzeugt bin, sie auch so geträumt zu haben und nicht anders. Mittlerweile dürfte ich eine ganze Kette interessanter Brückenkonstruktionen entworfen, oder verträumt und mit Illusionen vernetzt haben.

      Der letzte Brückenbauauftragstraum liegt gerademal drei oder vier Wochen zurück. Gleich danach getraute ich mich erstmals hinter das Phänomen der sich vielfach wiederholenden ähnlichen Brückenbauabläufe zu schauen. Dabei entdeckte ich bei mir selbst, dass ich offenbar drauf und dran bin zu versuchen, die in meiner wahrscheinlichen Traumlandschaft so manche scheinbar unüberbrückbaren Zwischenräume, die in der berührbaren Umgebung mir hin und wieder in die Quere kommen, zu verbinden.

      Auf einen Traum kann ich mich noch sehr gut zurückerinnern. Ich habe dieses auch in das Notizheft hineingeschrieben. Als eine Art expressive Brückenbauerin saß ich in der psychiatrischen Ambulanz mit meinen zwei Freundinnen Margot und Anita Reisenhübner im Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern. Wir wurden von einer langhaxigen, vollbusigen und noch dazu schwarzhaarigen Krankenschwester in den Untersuchungsraum geführt. Mich hatte man schon in der Kartei als Brückenbauerin evident. Nur meine zwei Freundinnen mussten erst vom Doktor untersucht werden. Er war so eine Art von Lichtgestalt, weißer Mantel, weiße Haare, kreisrunde Brille und geschminkte dunkelrote Lippen. Was der Doktor den beiden so alles gefragt hatte, blieb mir verborgen. Nur entscheidende Fragen nicht.

      Erste Frage vom Doktor an Margot: "Wieviel ist drei Mal vier?"

      Margot sagte: "viertausendachthundertfünfundzwanzig“.

      Zweite Frage vom Doktor an Anita Reisenhübner: "Wieviel ist drei Mal vier?"

      Anita Reisenhübner überlegte nicht und antwortete prompt: „Donnerstag.“

      Und nun fragte mich auch noch der Doktor: "Schani, wieviel ist drei Mal vier?"

      Ich antworte ebenso rasch und überzeugt: "Zwölf."

      Der Doktor meinte: "Sehr gut Schani,