Sophie hielt ihm die Wohnungstüre weit auf und begrüßte ihn lachend, als ob sie sich erst kürzlich gesehen hätten, mit einer herzlichen Umarmung.
Sie führte Bommelmütz ins Esszimmer, wo eine üppig gedeckte Frühstückstafel bereitstand. Sie hatte Tee gemacht und frische Croissants gekauft. Bommelmütz verspürte keinen Hunger und probierte nur aus Höflichkeit den Tee und ein wenig von der hausgemachten Marmelade. Zum Frühstücken war er viel zu aufgeregt.
Sie redeten und redeten. Nach einer Stunde wusste er ziemlich genau, was sich in Sophies Leben seit ihrem Wegzug alles zugetragen hatte. Sie war geschieden. Der Exmann machte sich rar, zahlte jedoch mehr oder weniger zuverlässig die monatlichen Alimente für die zwei Kinder. Weil der Ex inzwischen eine neue Frau und mit ihr ein weiteres Kind hatte, war das Geld knapp. Sophie arbeitete wieder für den Lokalteil der Zeitung als freie Redakteurin und hielt sich ansonsten mit Auftragsarbeiten über Wasser.
Der Kommissar war wieder einmal in ihm durchgebrochen, Berufskrankheit!
Sophie hatte bis dahin alle seine Fragen geduldig beantwortet. Jetzt war sie am Zug.
Die Idee, den Fall Betty wieder aufzurollen verfolgte sie, seitdem sie vor ein paar Wochen beim Lebensmittelhändler zufällig Bettys Mutter begegnet war. «Seit der Ermordung unserer Tochter sind bald zehn Jahre vergangen. Mein Mann und ich haben uns damit abgefunden, dass unsere Tochter nicht mehr lebt», hatte ihr Bettys Mutter anvertraut: «Aber mein Mann und ich können uns nicht damit abfinden, dass ihr Mörder immer noch frei herumläuft! Wer weiß? Der Mörder lebt vielleicht unbehelligt und ungeniert mitten unter uns. Womöglich steht er beim Einkaufen hinter mir an der Kasse, als ob nichts passiert wäre.»
So wie sie es gesagt hatte, war es ein Appell.
Sophie sah Bommelmütz eindringlich an. «Das Gespräch mit Bettys Mutter belastet mich. Ich habe selbst zwei Kinder und kann mich in die Lage dieser Eltern nur zu gut hineinversetzen».
Sie sah ihn eindringlich an: «Ich möchte erreichen, dass der Fall neu aufgerollt wird! Hilfst du mir?»
Bommelmütz überlegte lange. Er starrte vor sich auf den Tisch, als ob die Antwort am Boden der Teetasse zu finden sei, während er sich die Worte eines nach dem anderen zurechtlegte. Er hatte in dieser Angelegenheit schon einmal leichtsinnig ein falsches Versprechen abgegeben und wollte denselben Fehler nicht wiederholen.
«Was ist, Winni, kriegst du kalte Füße?» Sie ergriff zur Untermauerung seine Hand. «He, Winni. Der alten Zeiten Willen. Wir waren ein Spitzenteam, das Beste. Und was wir uns vornehmen, das schaffen wir auch. Das hast du selbst einmal gesagt! Erinnerst du dich nicht mehr?»
Außerdem, so ergänzte sie freimütig, sei der berufliche Druck immens gewachsen: «Reihum schließen ganze Redaktionen oder werden zusammengelegt. Daneben drängen immer neue, gut ausgebildete Journalisten aus den Unis an den Markt. Die Konkurrenz schläft nicht. Ich brauche dringend eine gute Story!», jetzt war sie es, die appellierte.
«Ich bin nicht mehr bei der Polizei», bekannte er offen, «aber ich muss zugeben, dass mich der Fall nie losgelassen hat». Und nach einer kleinen Pause gestand er Sophie, dass er Bettys Eltern damals in völliger Selbstüberschätzung versprochen hatte, den Mörder zu fassen. «Vor den Eltern, die das Schicksal so schwer getroffen hatte, als Lügner dazustehen, belastet mich noch heute extrem.»
Sophie ließ seine Hand los und ging zu einer Kommode am Fenster. Es war ein uraltes Möbel aus Nussbaumfurnier; vermutlich ein Erbstück und gut und gerne über hundert Jahre alt. Die Schublade klemmte. Sophie ruckelte verärgert mit aller Kraft die Lade hin und her, bis sie sich endlich unter Knorzen herausziehen ließ. Sophie entnahm ihr ein dickes Dossier, das Bommelmütz nur unschwer als Kopie einer Polizeiakte erkannte. Er staunte, zog die Brauen hoch und schüttelte verwundert den Kopf.
«Wie kommst du bloß an diese Aktenkopie?», fragte er voller Bewunderung, obwohl er als ehemaliger Beamter Sophies Vorgehen eigentlich missbilligen musste.
Sophie schmunzelte und legte den Zeigefinger an die Lippen: «Winni, du wirst verstehen, dass ich meine Quellen nicht preisgebe. Ich brächte meinen Informanten sonst in Teufels Küche».
Bommelmütz nickte: «Darf ich?» Er griff sich das Dossier, ohne die Antwort abzuwarten und begann darin zu blättern. Als seine Blicke über die Protokolle und Fotos streiften, erwachten in ihm lang verschollene Erinnerungen.
Zu den Fotos, Skizzen und Protokollen aus der Akte gesellten sich seine eigenen persönlichen Eindrücke und Erlebnisse, die er tief in seinem Innersten gespeichert hatte und die jetzt wieder so klar Gestalt annahmen, als wäre alles erst gestern passiert. Sophie hatte wieder neben ihm Platz genommen und beobachtete ihn aufmerksam über die Schulter, wie er Seite um Seite umblätterte. Bommelmütz hatte den Köder geschluckt, den sie ihm zugeworfen hatte. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt und war zufrieden.
Als er durch war, schlug er energisch den Deckel zu und schob die Akte Sophie hinüber. Sie sah ihn erschrocken an. «Was denkst du? Keine Möglichkeit? Soll dieser Mord denn nie aufgeklärt werden?»
Weil sie ihre Chancen so unvermittelt schwinden sah, fügte sie in ihrer Not beschwörend hinzu: «Denk an dein Versprechen!»
Bommelmütz’ Leben war, seitdem er den Dienst quittiert hatte, ohne große Höhen und Tiefen verlaufen. Früher hatte er sich ein ruhiges Leben gewünscht. Aber jetzt vermisste er die Anspannung und die Bestätigung, die sein Beruf mit sich gebracht hatten. Das wurde ihm in diesem Moment besonders schmerzlich bewusst. Nicht um alles in der Welt wollte er diesen Moment missen. Er verspürte so viel Energie und Tatendrang wie seit Langem nicht mehr. Wie ein Kranker, der plötzlich genesen ist, oder eine Pflanze, die der Regen gerade noch vor dem Vertrocknen gerettet hat.
Sein Entschluss war längst gefasst. Er merkte aber, wie sehr Sophie an seiner Hilfe gelegen war und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte. Deshalb beschloss er, sie noch ein wenig zappeln zu lassen und kostete die Situation aus. «Ich muss mir das noch genauer durch den Kopf gehen lassen», log er, «gib mir etwas Zeit».
Im Gehen schlug er vor: «Ich könnte uns heute Abend etwas Feines kochen. Beim Essen können wir alles detailliert besprechen, was denkst du?»
Sophie überlegte kurz: «Wäre dir 20:30 Uhr recht? Dann habe ich die Kinder im Bett und kann zu dir kommen».
«Hier ist meine Karte. Ich wohne im Haus meiner Großeltern.» Sophie studierte die Visitenkarte. Sie war aus edlem naturfarbenem Karton. Die Serifenschrift war in einem aufwändigen Prägedruck aufgebracht worden. Eine Technik und ein Material, das heutzutage teuer und selten zu finden waren. Die Karte zeugte von gutem Geschmack und war sicherlich teuer gewesen. Weil ihm Sophie nicht sofort antwortete, fragte er unsicher nach: «Du weißt noch, wo das Haus meiner Großeltern steht?»
«Klar doch. Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mich früher oft zu deinen Großeltern mitgenommen. Dieses Haus würde ich auch im Schlaf wiederfinden», lachte Sophie.
Während sie ihn zur Türe brachte, stopfte sie ihm noch die Akte in die Jackentasche. Sie wollte ganz sichergehen, dass er keinen Rückzieher mehr machen würde.
Erkenntnisse
«Das Erfolgsrezept besteht aus einer Menge Kreativität, einer ordentlichen Portion Handwerkskunst und einer Prise Besessenheit»
Auf der Heimfahrt schossen Bommelmütz die wildesten Gedanken durch den Kopf. Inzwischen war er gedanklich längst schon mit der Lösung seines alten Falles beschäftigt.
Bildsequenzen vom Leichenfundort sowie Eindrücke und Gerüche aus der Gerichtsmedizin,