Das war doppelt bitter, denn nebst seiner gescheiterten Ehe betrachtete Bommelmütz seither den ungelösten Mordfall an der «schönen Betty» als seine größte persönliche Niederlage. Notgedrungen und widerwillig hatte er damals von dem Fall abgelassen. Er hatte sich aber insgeheim geschworen, sofort mit seinen Recherchen fortzufahren, sollten sich neue Anhaltspunkte ergeben.
Das war ganz am Anfang seiner Karriere als Ermittler bei der Mordkommission gewesen. Aber schon damals hatte sich Bommelmütz einen Namen als unerbittlicher Hund gemacht. Dabei war es ihm nicht entgangen, dass er unter seinen Kollegen den Ruf eines extrem kauzigen und eigenwilligen Zeitgenossen innehatte. Die Kollegen und Vorgesetzten belächelten ihn mitunter. Vielleicht auch aus Neid, denn seine Aufklärungsquote war überdurchschnittlich. Bommelmütz verfügte über die Ausdauer eines Jagdterriers sowie einen untrüglichen Instinkt, der ihn ganz selten im Stich ließ. Und dieser untrügliche Instinkt hatte ihm immer wieder gesagt, dass ihm irgendwann die Lösung auch zu seinem schwierigsten Fall in die Hände fallen würde. Er musste nur dranbleiben und stets wachsam sein. Doch jetzt, nachdem er den Polizeidienst quittiert hatte, bedeutete dies seine Kapitulation. Er würde den grausamen Mord an der «schönen Betty» nie mehr lösen können.
Wenn er genau darüber nachdachte, waren die Hinweise, die ihn zur späteren Lösung eines Falles führten, in den allermeisten Fällen nicht auf den ersten Blick erkennbar gewesen. Mehrmals hatte er wichtige Indizien erst auf den zweiten oder gar dritten Blick als solche erkannt. Aber er wäre nicht Bommelmütz gewesen, wenn er nicht mit der größten Verbissenheit jeder Spur, war sie auch noch so unscheinbar und unbedeutend, nachgegangen wäre.
Die Erinnerung an Edgar Vidal war unauslöschlich mit dem Fall Betty verwoben. Bommelmütz erinnerte sich noch an unzählige Details, als wäre es erst gestern gewesen.
Wie lange mochte der Mord an Betty nun zurückliegen? Bommelmütz war inzwischen am Briefkasten angekommen und angelte umständlich die Zeitung aus dem Schlitz, weil er wieder einmal den Briefkastenschlüssel nicht mitgenommen hatte. Seine Hand war viel zu breit, um durch den Schlitz zu passen. Es brauchte mehrere Anläufe, ehe er die Zeitung schließlich mit zwei Fingern an einem langen Ende zu fassen kriegte. So passte sie aber nicht durch den Schlitz. Also musste er sie mit den zwei Fingern auf die kurze Seite drehen. Daher dauerte es eine ganze Weile, bis er sie durch den Briefschlitz gefingert hatte.
Froh, das Kunststück endlich geschafft zu haben, entfaltete er das Blatt und studierte das Datum am oberen rechten Rand.
Seitdem er nicht mehr arbeitete, kam es oft vor, dass er das genaue Datum nicht wusste. Er lebte sozusagen zeitlos.
«15. April», murmelte er leise vor sich hin. Er erschrak über seine eigenen Worte und überlegte, warum?
Sicherlich, er war viel allein. Da kam es schon einmal vor, dass er sich bei Selbstgesprächen ertappte. Aber das war nicht der Grund seines Erschreckens.
Der eigentliche Grund war das Datum selbst: «Oh, mein Gott. Heute ist der 15. April!» Als er dieses Datum laut ausgesprochen hatte, holten ihn die Erinnerung und sein schlechtes Gewissen wieder ein, als hätte ihm Muhammad Ali einen Fausthieb mitten ins Gesicht versetzt. Sein Puls begann wie wild zu rasen. Die Erinnerung war glasklar zurück, als ob es gestern passiert wäre.
Exakt am 15. April vor zehn Jahren war die Leiche der toten Betty von einem Jäger entdeckt worden. Dies rund zwei Monate nach ihrem Verschwinden und nachdem wochenlang die gesamte Gegend intensiv, aber erfolglos nach dem schönen jungen Mädchen abgesucht worden war. Die Auffindesituation der Leiche war so absurd, dass Winni sich bis heute absolut keinen Reim darauf machen konnte. Nachdem die ganze Umgebung wochenlang bis in die hintersten Winkel vergeblich abgesucht worden war, stellte sich heraus, dass Bettys Leiche vor aller Augen deponiert worden war. Sie war quasi auf dem höchsten Punkt des Ortes ausgestellt worden.
Bommelmütz erinnerte sich noch an kleinste Details. Betty war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens zwanzig Jahre alt gewesen. Großgewachsen, gertenschlank, langbeinig, blondes langes Haar, grüne Katzenaugen und ein sehr schönes, klassisch geschnittenes Gesicht. Kurz und gut, ein Mädchen, das deutlich aus der Masse hervorstach und an das man sich später genau erinnerte, wenn man ihr irgendwo einmal begegnet war. Auch Bommelmütz war beeindruckt von ihrer äußeren Erscheinung. Sie war ihm gelegentlich begegnet, wenn er seinen Vater besucht hatte und sie ihm auf ihrem Schul- oder Nachhauseweg entgegenkam. Und weil in der kleinen Stadt jeder jeden zumindest vom Hörensagen kannte, wusste er auch, in welchem Haus sie wohnte und wer ihre Eltern waren. Betty, das sah man sofort, war lebenshungrig. Sie war nie allein und meist von einem ganzen Pulk Gleichaltriger umgeben. Bommelmütz war sich sicher, dass Betty der Schwarm aller Jungen in ihrer Abschlussklasse gewesen sein musste. Das Mädchen, von dem man Jahre später, wenn man bereits die Uni abgeschlossen und eine eigene Familie gegründet hatte, immer noch heimlich träumte. Doch während seiner Ermittlung fand er heraus, dass es da noch eine dunkle Seite gab. Betty war nämlich alles andere als ein braves, naives Schulmädchen.
Seine Befragungen ihrer Mitschüler zeichneten ein neues, völlig unerwartetes Bild von Betty. «Betty», so erzählten sie einstimmig, «setzte skrupellos ihre physischen Reize ein, um ihre materiellen Ziele zu erreichen. Sich überall bestens in Szene zu setzen, darin war Betty wirklich außerordentlich talentiert. Sie machte keinen Hehl daraus und ließ jeden wissen, dass sie auf ein komfortables Leben mit möglichst viel Luxus aus war. Ein arbeitsames, sparsames und anspruchsloses Leben, wie es ihre Eltern ihr vorlebten, kam für Betty nicht infrage. Sie hatte sogar im Deutschunterricht einen Aufsatz zum Thema geschrieben: «Wie ich mir meine Zukunft vorstelle.» Bommelmütz hatte nichts unversucht gelassen und bei seiner Recherche Bettys privates Umfeld genauestens durchleuchtet. Er hatte auch ihren acht DIN-A4-Seiten umfassenden Schulaufsatz von Anfang bis zum Schluss aufmerksam durchgelesen. Der Aufsatz war sicherlich kein intellektueller Höhenflug, aber dafür sehr aufschlussreich gewesen, was Bettys innere Einstellung, ihre Lebensziele und Wertevorstellung anbelangten.
Bommelmütz konnte sich an eine Passage darin auch heute noch ganz genau erinnern: «Ich werde mich auf keinen Fall wie meine Eltern ein ganzes Leben lang abrackern, um dann festzustellen, dass ich es zu nichts gebracht habe. Ich werde ein erfülltes, angenehmes Leben haben. Dies erreiche ich, indem ich mich mit einflussreichen Menschen vernetze. Sich mit erfolgreichen Menschen zu umgeben, ist die beste Garantie für den eigenen Erfolg. Davon bin ich überzeugt.»
Vermutlich war es ihrer Jugend geschuldet, dass Betty keinen einzigen Gedanken an die Moral eines solchen Ansinnens verschwendete. Und leider blieb in dem Aufsatz auch offen, welche einflussreichen Personen sie im Visier hatte. Vielleicht waren ihre Ausführungen nur jugendliche Phantasterei; vielleicht war die schöne Betty aber auch jemand auf den Leim gegangen oder womöglich zu nahegekommen. Jemandem, der sie später aus dem Weg geräumt hat. In jedem Fall war Bettys Ermordung eine riesige Verschwendung an Leben und Ästhetik! «Warum nur musste dieses wunderschöne Mädchen in der Blüte ihres Lebens sterben? Hatte jemand einfach nur Spaß am Töten gehabt, oder kannte Betty ein Geheimnis und stellte dadurch eine Bedrohung dar?» Diese Frage ging Bommelmütz seit damals nicht mehr aus dem Kopf.
Weil Betty ihre Weltanschauung so offen kundtat, wunderte sich niemand, am wenigsten ihre Eltern, über den Umstand, dass Betty eines Tages nicht mehr da war. Dass sie ihre Tochter nicht halten konnten, war ihnen schon lange klar gewesen. Aber eine Betty wäre nicht klammheimlich auf und davon gegangen. Sie hätte ihren Erfolg ausgekostet. Betty hätte ihren Weggang und ihr neues Leben zelebriert und allen vorgeführt, dass sie ihr selbstgestecktes Ziel erreicht hatte. Die Eltern erinnerten sich, dass sie vor ihrem Verschwinden wiederholt Andeutungen zu einem «Projekt» gemacht hatte, welches ihr Wohlstand sowie eine sorglose Zukunft garantieren sollte. Auch am Nachmittag, bevor sie verschwand, gab sie ihrer Mutter gegenüber vor, ihr Projekt vorantreiben zu wollen. Die Eltern kannten ihre Tochter und fragten nicht nach, weil es ohnehin nichts gebracht hätte. Als Betty dann jedoch nachts nicht nach Hause kam und anderntags kein Lebenszeichen von sich gab, wurden sie erst nervös und später panisch. Sie schalteten die Polizei ein und suchten auf eigene Faust nach Hinweisen.
Betty war erwachsen und nicht verpflichtet, sich zuhause abzumelden.