Ein beinahe hoffnungsloser Fall. Elisabeth Hug. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elisabeth Hug
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752924763
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nahm die Polizei den Fall offiziell auf. Mehrere Spezialeinheiten sowie die örtliche Feuerwehr begannen mit Suchtrupps und Spürhunden nach Betty zu suchen. Leerstehende Gehöfte, Brunnen, Wälder, das ganze Gelände wurden nach dem verschwundenen Mädchen durchforscht. Kurz darauf übernahm Vidal den Fall. Ihm war sofort klar, dass die Situation sehr ernst war. Er forderte sogar Taucher an, um alle Seen der Umgebung nach Betty abtauchen zu lassen. Bommelmütz arbeitete damals noch nicht bei der Mordkommission. Nur weil Bommelmütz Betty gekannt hatte und weil er in derselben Kleinstadt lebte, in der jeder jeden kennt, und weiß, mit wem jeder verwandt, bekannt oder zerstritten war, holte ihn Kommissar Edgar Vidal damals in sein Ermittlungsteam.

      Er wollte Bommelmütz dabeihaben, weil dieser das Lokalkolorit bestens kannte und er sich durch ihn Insights versprach.

      Bommelmütz wiederum empfand ein Kapitalverbrechen in seinem eigenen und unmittelbaren Umfeld als persönlichen Affront. Nur zu gerne willigte er deshalb ein, als Vidal ihm die Mitarbeit an dem Fall höchstpersönlich antrug. Zudem galt Vidal als einer der erfolgreichsten Mordermittler. Für Bommelmütz war es eine große Auszeichnung, dass er in dessen Team mitarbeiten durfte. Vidal wiederum war ein ziemlicher Eigenbrötler. Er machte keinen Hehl daraus, dass er eigentlich am liebsten allein arbeitete und nur selten jemanden ins Vertrauen zog. Doch bei Bommelmütz war das anders – nach anfänglicher Skepsis erkannte Vidal schnell das Potenzial seines jungen Kollegen. Bald war klar, die beiden Männer ergänzten sich ausgezeichnet und arbeiteten mit derselben kauzigen Verbissenheit.

      Bommelmütz wischte die Erinnerung aus seinem inneren Auge weg und widmete sich wieder der Gegenwart. Interessiert fokussierte er die Titelseite der Zeitung. Der Name «Betty» und das Polizei-Suchbild von damals stachen ihm beim Scannen der Titelseite des Provinzblattes sofort ins Auge. Bommelmütz war wie vom Blitz getroffen. «Gibt es neue Erkenntnisse? Und wenn ja, welche?»

      Bommelmütz’ Beine hatten sich bereits automatisch in Bewegung gesetzt und waren auf dem Rückweg ins Haus. Unzählige Male zuvor hatte er den Weg vom Briefkasten zu seinem Haus schon zurückgelegt. Weil er aber völlig absorbiert von dem Zeitungsartikel war und sein Puls so sehr raste, dass er seine Umwelt gar nicht mehr wahrnahm, wäre er um ein Haar über Tiger, Elviras Kater, gefallen.

      Tiger hatte die Angewohnheit, urplötzlich und wie ein Phantom aus dem Nichts aufzutauchen. Mehrmals am Tag besuchte er Bommelmütz. Der war normalerweise froh über ein wenig Gesellschaft und belohnte ihn mit einer Portion Katzenfutter, das er immer für seinen tierischen Gast bereithielt.

      Heute aber knurrte der fast ins Straucheln geratene Bommelmütz seinen Besucher an: «Was fällt dir ein, Tiger! Ich breche mir eines Tages noch meinen Hals wegen dir!»

      Bommelmütz war für eine Sekunde stehen geblieben, um sein Gewicht auszubalancieren. Die Katze starrte ihn verständnislos mit ihren riesigen grünen Raubtieraugen an und stupste dann wie zur Untermauerung ihres Anliegens mehrmals mit ihrer rosigen Nase gegen seine Schienbeine.

      Bommelmütz tat es bereits leid, dass er den Kater so unfreundlich angeschnauzt hatte. Für den Kater war dies ein Tag wie jeder andere. Er wollte nur sein Futter. Bommelmütz klappte energisch die Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Dann warf er dem Kater einen aufmunternden Blick zu. «Komm Kumpel, wir gehen erst einmal ins Haus frühstücken, dann sehen wir weiter!»

      Schon machte er sich mit Riesenschritten auf den Weg in Richtung Haus, dicht gefolgt von dem graumelierten Kater.

      In der Küche angelangt, breitete Bommelmütz die Zeitung auf dem Tisch aus und strich sie mit der Hand glatt. Er konnte es kaum erwarten, sie zu lesen. Aber der Kater würde keine Ruhe geben, ehe er sein Futter hatte. Daher füllte er die Katzenschüssel zur Hälfte mit Trockenfutter und stellte sie dem ungeduldigen Tiger an seinen Platz. «Ich habe dir die Schüssel nur halb voll gemacht, mein Junge. Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du wirst langsam fett!»

      Er grinste wohlwollend und tätschelte Tiger freundschaftlich den Rücken.

      Dann wandte er sich seiner chromblitzenden italienischen Kaffeemaschine zu.

      Wie jeden Morgen hatte er sie gleich als Erstes nach dem Aufstehen angeschaltet und das Wasser im Vorratsbehälter gewechselt, ehe er ins Bad gegangen war. Jetzt leuchtete eine grüne Lampe auf, was bedeutete, dass die Espressomaschine betriebsbereit war.

      Bommelmütz hatte nicht viel übrig für Luxus. Aber beim Kaffee kannte er keine Kompromisse und machte eine Ausnahme. Er hatte sich diese sündhaft teure, chromblitzende, elegant designte italienische Espressokolbenmaschine nicht nur deshalb geleistet, weil ihn ihre Optik faszinierte, sondern vor allem, weil sie den allerbesten Kaffee braute, den man haben konnte. Und Bommelmütz war ein Experte. Er verfügte über ausgesprochen feine Geschmacksnerven und schmeckte seinen Lieblingskaffee unter zig anderen Sorten heraus. Wie jeden Morgen zelebrierte er die Kaffeezubereitung, wenn auch zugegebenermaßen an diesem Morgen etwas ungeduldiger als sonst. Schließlich lag die Zeitung mit dem Betty-Artikel immer noch ungelesen auf dem Küchentisch. Bommelmütz brannte förmlich darauf, herauszufinden, ob es neue Erkenntnisse in dem Fall gab. Er stellte die vorgewärmte Tasse unter den Auslaufstutzen und drückte auf den Knopf. Das Mahlwerk setzte sich in Bewegung und verrichtete mit lautem Surren seinen Dienst. Dann drückte die Pumpe das Wasser durch den Kolben. Der Kaffee, eine seltene Hochlandsorte, die er sich exklusiv von einer kleinen Kaffeerösterei in der Stadt kommen ließ, ergoss sich sprotzend und schäumend in die Tasse. In einem Fachmagazin hatte er einmal gelesen, dass eine einzige Kaffeebohne durchschnittlich etwa 880 Duft- und Aromastoffe enthielt. Die Zahl erschien ihm übertrieben. Trotz seines feinen Geruchssinns würde er die einzelnen Aromen nicht annähernd auseinandersortieren können. Dass es sich hierbei jedoch um eine Unzahl von Aromen handeln musste, hierüber lieferte ihm seine Kaffeemaschine jeden Morgen den Beweis. Schon beim Mahlen der Bohnen erfüllte sich seine Küche mit einem wahren Duftfeuerwerk. Er sog die Aromen mit tiefen Zügen durch seine Nasenflügel. Sie belebten seinen Geist.

      Für Bommelmütz zählte der erste Schluck heißer Espresso am Morgen zu einem heiligen Ritual. Gewöhnlich zelebrierte er diesen Moment. Doch heute konnte er ihn nicht genießen, weil ihm schlicht die Muse dazu fehlte.

      Bommelmütz schielte mit einem Auge auf die kleine, dickwandige Kaffeetasse unter der Espressomaschine, die sich langsam füllte und deren Duft ihm in die Nase stieg. Mit dem anderen Auge spähte er auf die Zeitung, als habe er Angst, sie könnte weg sein, wenn er sie nur einen kurzen Moment aus den Augen ließe. Als die Maschine verstummt war, griff er ungeduldig nach der Tasse und setzte sich Richtung Tisch in Bewegung, die Zeitung immer noch fest im Visier. Auf dem Weg zum Tisch nippte er einen Schluck aus der Tasse. Er schlurfte den Kaffee laut und spülte ihn lange im Mund zwischen seinen Zähnen, um seine Geschmacksnuancen in sich aufzunehmen. Das köstliche Gebräu brauchte er an normalen Tagen, um richtig wach zu werden. Heute Morgen war das nicht nötig, er war bereits hellwach.

      Bommelmütz stellte die dampfende Tasse weit von sich auf den Tisch, um die Zeitung besser umblättern zu können.

      Auf der Titelseite prangte riesengroß Bettys Foto, zusammen mit dem Hinweis, auf welcher Seite der Leser den zugehörigen Artikel finden würde.

      Bommelmütz starrte auf das Portrait-Foto, das ihm bestens bekannt war. Es war das offizielle Polizeifoto von vor zehn Jahren, das auch seine Abteilung für die Suche nach Betty verwendet hatte. Er selbst hatte dieses Foto damals hundertfach vervielfältigen lassen, um es an alle Zeitungen, Polizeiposten und Postämter zu verteilen. Jeder Mann, jede Frau und selbst jedes Kind im ganzen Umkreis kannten damals das Foto der vermissten Betty.

      Eilig blätterte Bommelmütz zur angegebenen Seite.

      Der Lead war mit tm gezeichnet. Bommelmütz überlegte kurz, wofür die Abkürzung stand. Er meinte, alle aktuellen Redakteure des örtlichen Boten zu kennen. Aber natürlich war er längst raus aus dem Geschäft. Ein Redakteur mit den Initialen tm war ihm nicht bekannt. Er studierte eingehend den zweispaltigen ausführlichen Artikel. Er musste zugeben, der Artikel war sehr gut recherchiert. Der Schreiber, wer er auch war, hatte ausgiebige Kenntnisse von dem Fall, wenn er auch keine neuen Indizien beisteuern konnte.

      Der Artikel schloss mit der Hoffnung, dass sich etwaige Zeugen, die bisher,