Kurzerhand drängt sie die bereits reisefertigen Zauberer und Albin nach draußen. Heftige Windböen und erste Regenschauer erwarten sie. Der Regen peitscht ihnen eiskalt ins Gesicht, so dass sie fast nichts erkennen können.
Sorcha stößt einen hohen, schrillen Schrei aus, der die anderen beiden erschrocken zusammenfahren lässt.
»Entschuldigung, ich wollte euch nicht erschrecken. Ich habe nur Seabhag-ghorm gerufen. Sie wird unser Späher sein.«
Sie sieht die fragenden Blicke auf sich gerichtet, als auch schon ein langgezogener, hoher Vogelschrei antwortet. Als alle nach oben schauen, sehen sie einen Vogel im Sturzflug auf Sorcha herabstoßen. Kurz bevor sie erreicht wird, fängt er sich ab, fliegt einen kleine Kreis und landet auf ihrem ausgestreckten Unterarm. Es ist ein eindrucksvoller Falke, der seine langen, spitzen Flügel jetzt anlegt. Er hat einen sehr dunklen Oberkopf mit einem breiten, schwarzen Backenstreif. Sein Gefieder ist auf dem Rücken dunkel blaugrau. Die Bauchseite ist auf weißem Grund mit dunklen Querbändern gezeichnet und besitzt kleine Flecken an Hals und Brust. Seine dunkelbraunen Augen blicken Sorcha erwartungsvoll an. Die Elfe spricht leise mit dem schönen Tier, ohne dass die anderen die Worte verstehen. Es ist eine ihnen unbekannte Sprache. Sorcha bewegt den Arm schnell nach oben. Der Vogel stößt erneut den hohen Schrei aus und schwingt sich mit kräftigen Schlägen in die Luft. Dort fliegt er große Kreise.
»Seabhag-ghorm wird für uns nach Feinden Ausschau halten. Aus entsprechender Höhe kann sie in einem großen Umkreis Beutetiere erkennen. Wölfe, Fußgänger oder Reiter sind für sie aus noch größerer Entfernung erkennbar. Da die Wolken heute so niedrig hängen, ist der Suchradius entsprechend kleiner. Da sie aber sehr schnell fliegt, kann sie durch den geflogenen Kreis das abgesuchte Terrain vergrößern. Wir nutzen durch ihre Hilfe ein optimales Frühwarnsystem. Sobald sie etwas Auffälliges entdeckt, stößt sie ein entsprechendes Warnsignal aus. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Sollten sich Feinde tarnen und unbeweglich auf uns warten, werden sie kaum von meinem Späher entdeckt werden.« Die Elfe ist sichtlich stolz auf die Fähigkeiten des Vogels.
Die drei wandern über einen sich windenden Pfad Richtung Osten. Der Horizont sieht zwar etwas heller als der Rest des Himmels aus, aber die morgendliche Sonne lässt sich nicht sehen. Sie gehen auf dem schmalen Weg in einer Reihe hintereinander. Albin vor Sorcha, dann folgt Eila und Finley bildet den Schluss. Besonders die Gruppen von Krüppelkiefern sowie dichte Sträucher werden erst aufmerksam betrachtet, bevor sie diese passieren. Nach dreistündiger Wanderung in ständiger Alarmbereitschaft sind sie ziemlich erschöpft. Sie benötigen eine kurze Rast. Ein umgestürzter alter Baumriese bietet ihnen abseits vom Weg etwas Schutz gegen die Regenschauer, die fast waagerecht über die Ebene fegen.
Auf einen Ruf Sorchas stößt der Wanderfalke zu ihnen herab. Er bekommt kleine Fleischstückchen aus einem Beutel, den die Elfe am Gürtel trägt.
Nachdem sie sich etwas erholt haben, wollen sie gerade aufbrechen, als sie dumpfe Geräusche aus der durchwanderten Gegend herannahen hören. Es sind Pferde. Aber wer reitet sie?
Sorcha hat den Falken in die Luft geworfen und hält ihren Bogen schussbereit, ohne dass Eila die entsprechenden Bewegungen verfolgen konnte.
»Nein, nicht schießen. Ich werde uns verbergen«, und schon murmelt sie die bekannten Sprüche.
»Was ist das denn?« Sorcha klingt halb erstaunt und halb entsetzt, als sie offenbar im Boden versinken, während Albin völlig ruhig bleibt. Das Mädchen hat in der Aufregung vergessen, ihn vorher »ruhigzustellen«.
»Du brauchst dich nicht zu sorgen, wir sind im Erdreich den Blicken anderer verborgen. Dir geschieht nichts. Ich werde den Zauber aufheben, wenn die Gefahr vorüber ist. Und bitte schieße nicht, das ist zu unserem Schutz nicht notwendig. Du würdest uns aber mit dem Pfeil verraten und dadurch möglicherweise in Gefahr bringen.«
Als Finley sieht, dass die Elfe etwas erwidern will, flüstert er: »Du kannst ihr vertrauen, sie weiß was sie tut. Sie hat uns durch diese Defensivzauber mehr als einmal gerettet!« Eila krault Albin, der sie aus seinen treuen Augen ansieht. Er muss nicht überzeugt werden.
Das Pferdegetrappel wird lauter. Nach einer Weile passieren drei Reiter ihr Versteck. Sie haben sich in schwere Umhänge gewickelt. Die Gestalten oder Gesichter sind nicht zu erkennen, auch nicht, ob sie vielleicht bewaffnet sind. Langbogen führen sie jedenfalls nicht mit sich, soviel steht fest. Dafür hat jeder eine dicke Satteltasche dabei, die mit allem Möglichen gefüllt sein könnte. Die kleine Gruppe zieht langsam weiter. Ihr Benehmen spricht eher für harmlose Reisende oder Händler. Falls sie ihre Verfolger wären, hätten sie sich nach möglichen Verstecken umgesehen und diese dann untersucht. Den dicken Baumstamm würdigen sie aber keines Blickes. Sie würden wohl auch schneller, und nicht im Schritt reiten. Also sind sie wirklich harmlos?
Trotzdem wartet Eila lange, bis sie die Schutzzauber aufhebt.
Die Wanderung durch das unfreundliche Wetter wird fortgesetzt. Nach weiteren Stunden ändert sich der bisher langsam ansteigende Boden. Er besteht nicht mehr aus einer zumindest dünnen Erdkrume, er ist jetzt felsig. Der vorher spärliche Grasbewuchs ist in Flechten und Moose übergegangen. Es zeigen sich hier und dort Erdspalten im Felsgestein, das immer steiler ansteigt. Die Wanderung wird sehr anstrengend. Die andauernde Nässe lässt den Untergrund gefährlich rutschig werden. Außerdem kommen streckenweise Geröllfelder hinzu, die den Füßen kaum Halt gewähren. Als der Bergrücken erreicht ist, sehen sie vor sich viele große Felsen. Diese stehen oder liegen wirr durcheinander und aufeinander.
Es sieht so aus, als ob Riesen diese großen Brocken durcheinandergeworfen hätten. Dazwischen liegen Geröllhalden, sie scheinen durch dabei zersplitternde Felsbrocken entstanden zu sein. Die Wanderer bleiben staunend stehen, zu bizarr und unwirklich sieht es aus.
Der hier noch stärkere Wind lässt ihnen den Regen wie einen Beschuss mit Eiskristallen auf ihre Gesichter erscheinen. Ihre Nasen und Wangen sind mittlerweile tiefrot. Die Augen brennen und lassen sie nur noch wenig erkennen. Der Wanderfalke hat seine Suchkreise angepasst, sie sind inzwischen stark verkleinert. Albin läuft etwas voraus und bellt auffordernd. Als sie bei ihm sind, stehen sie vor mehreren Felsen, die ihnen einen Unterschlupf gewähren. Dankbar suchen sie diesen natürlichen Schutz auf.
Die Elfe ruft ihren Falken, der ebenfalls das Trockene willkommen zu heißen scheint. Eila spricht ihre Schutzzauber, anschließend lockern sie ihre gepeinigte Muskulatur. Nach einem eher sparsamen Abendessen legen sie die Reihenfolge der Wache fest. Sie wollen sich alle drei Stunden ablösen, so dass sie am nächsten Morgen relativ gut ausgeruht sein sollten. Der jeweils wachende soll in dem Schutz dieser Felsen bleiben. Er kann bei dem Unwetter draußen nicht mehr wahrnehmen, als hier im Unterschlupf. Dafür bleibt er aber trocken.
Die Nacht verläuft ohne Störung und Eila träumt nicht.
Unruhen
Professor Hlin sitzt in ihrem Arbeitszimmer in Coimhead. Der Wiederaufbau und die Beseitigung der Verwüstungen gehen nur langsam voran. Sie berät sich mit den Kollegen Ethan O’Brasset, Aksel Gunnarsson und Deirdre Flannagan.
»Es sind kaum Arbeiter aus der nahen Stadt zu bekommen«, berichtet Professor O’Brasset. »Das benötigte Baumaterial ist so gut wie unmöglich zu beschaffen. Es sieht so aus, dass der Schulbetrieb dieses Jahr nicht wieder aufgenommen werden kann. Im Moment scheint der früheste Beginn erst im Februar zu sein.«
»Das ist eine Katastrophe für das Internat. Viele Eltern haben ihre Kinder bereits abgemeldet«, erwidert die Schulleiterin. Dann fährt sie fort: »Die Nachrichten in den Zeitungen der letzten Tage sind auch nicht positiv. Es sieht so aus, als wenn es überall im Land zu Unruhen kommt.«
Professor Flannagan ergänzt: »Im Norden sind Bergarbeiter in einen Streik getreten. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und eine gesicherte Altersvorsorge. Das klingt an sich gut. Schlecht dabei ist, dass diese Streiks nicht friedlich verlaufen. Der Auslöser ist nicht bekannt, aber die Arbeiter haben begonnen, die Fördereinrichtungen zu zerstören. Damit ruinieren sie sich doch selbst! Sie sind auch schon marodierend durch einige