einer gewaltigen Woge heran, die schon bald über die Stadt und ihre
Menschen hereinbrechen und sie verschlingen würde.
»Wir werden die Mauer nicht mehr lange halten können«, sagte Helrund
und blickte die Mauerkrone entlang.
»Nein, nicht mehr lange.« Palwin spuckte aus, und sein Speichel mischte
sich mit dem allgegenwärtigen Sand. »Wir werden sie aufgeben und uns
zurückziehen müssen. Doch bevor das geschieht, werden wir unsere Lanzen
in die Leiber der verfluchten Barbaren senken. Mögen die finsteren Abgründe
den Sand und seine Krieger verschlingen.«
Die Wehrmauer umgab die in konzentrischen Ringen errichteten Häuser
Tarsilans und wirkte mächtig und unbezwingbar, aber es gab einfach zu
wenige Männer, um die Stadt verteidigen zu können. In viel zu weiten
Abständen standen sie entlang der Mauer hinter den Zinnen. Die meisten von
ihnen trugen die grünen Umhänge der Pferdelords, doch einige waren in den
braunen Stoff der einfachen Stadtbewohner gehüllt. Auch neben Helrund und
Palwin stand ein solcher Mann, den die beiden Pferdelords mit Argwohn
betrachteten. Es lag nicht einmal an ihm selbst, denn immerhin gehörte er
dem Pferdevolk an. Doch in seinen Händen hielt er Waffen, welche die
beiden erfahrenen Kämpfer zutiefst verabscheuten.
»Es ist nicht recht, dem Feind mit Pfeil und Bogen zu begegnen«, brummte
Palwin. »Man muss ihm im Sattel begegnen und die Lanze mit festem Stoß in
seinen Leib senken. Von Angesicht zu Angesicht.« Er spuckte erneut aus.
»Ihn aus der Ferne mit dem Pfeil abzuschlachten, hat keine Ehre.«
Der Mann im braunen Umhang erwiderte Palwins Blick und verzog das
Gesicht. »Ihr werdet Euch schon bald wünschen, es gäbe mehr von meiner
Art auf der Mauer, guter Herr Pferdelord.«
Palwin stieß ein obszön klingendes Geräusch aus. »Den Pfeil in einen
Pelzbeißer oder eine Raubkralle zu senken, das ist Euer ehrliches Handwerk,
Herr Jäger. Aber einen Krieger aus der Ferne zu morden, das hat keine Ehre.
Nein, die hat es nicht.«
»Sagt das den Barbaren des Sandvolkes, Herr Pferdelord«, erwiderte der
Jäger wütend. »Auch sie töten aus der Ferne. Ihr kennt ihre merkwürdigen
Rohre, die sie an den Mund legen und mit denen sie ihre scharfen Stacheln
verschießen. Schon mancher Pferdelord wurde durch sie vom Pferd geholt.«
»Wie auch immer, es hat keine Ehre«, knurrte Palwin.
Helrund legte seine Hand beschwichtigend auf die Schulter seines
Kampfgefährten. »Streitet nicht. In diesem Moment stehen wir vereint,
Schulter an Schulter. Ich gebe Euch recht, mein guter Herr Palwin, es wäre
ehrenhafter, dem Feind auf dem Rücken unserer Pferde zu begegnen, die
Stoßlanze fest in der Hand. Aber selbst der König sagt, dass eines Tages
womöglich gar die Pferdelords mit Pfeil und Bogen kämpfen.«
»Niemals«, erwiderte Palwin entschieden. »Kein wahrer Pferdelord würde
diese Waffen verwenden, um den Feind so ehrlos abzuschlachten.«
»Die Ehre, die Ehre«, zischte der Jäger. »Wo war sie denn, als die
Barbaren in unser Land einfielen, unsere Weiler überrannten und Frauen und
Kinder abschlachteten? So wahr ich Otan aus dem Grüntalweiler heiße, ich
bin ein guter Jäger, Ihr Herren Pferdelords, und solange noch Kraft in meinen
Armen ist und Pfeile in meinem Köcher sind, werde ich ihre Spitzen in die
Leiber der Mörder senken.«
Helrund nickte und lächelte versöhnlich. »Wohl gesprochen, guter Herr
Otan.« Er klopfte Palwin auf die Schulter. »Und er hat recht, mein Freund,
wir werden uns bald wünschen, mehr Jäger auf der Mauer zu haben, die ihre
Pfeile auf den Feind schießen können.«
»Dennoch sollten wir ihm gebührend entgegentreten. Auf dem Rücken der
Pferde und mit vorgereckter Lanze.« Palwin grinste. »So wie wir uns das
erste Mal begegnet sind, Helrund, mein Freund.«
Helrund erwiderte das Lächeln. »Ich kann mich noch gut daran erinnern,
guter Herr Palwin. Der Kampf um die Herde des Grausteinweilers, bei dem
Ihr mir Eure Lanze in die Schulter rammtet. Ein guter Stoß, noch immer
schmerzt die Narbe, wenn das Wetter umschlägt.«
»Heute wird mein Schild Euch decken, guter Herr Helrund.« Palwin
schüttelte die Stoßlanze in seiner Hand. »Und mein Stahl wird den Feind von
der Mauer stoßen.«
»Wir haben dem Feind nicht viel Stahl entgegenzusetzen«, seufzte
Helrund. »Die Hälfte der Wache des Königs und die Menschen der Weiler
sind auf dem Weg zur Grenze, um eine neue Heimat zu finden. Unsere
Reihen sind dünn besetzt.« Er zuckte die Schultern. »Immerhin stehen wir
nun geeint Seite an Seite, alter Freund.« Helrund blickte über die Mauer auf
die sich sammelnden Barbaren des Sandvolkes. »So haben wir den Barbaren
auch etwas Gutes zu verdanken.«
Noch vor wenigen Jahreswenden waren die Clans des Pferdevolkes
verstreut gewesen und kämpften untereinander um Herden und Weidegründe.
Als dann die Barbaren des Sandvolkes aus dem Norden herandrängten, waren
einzelne Weiler des Pferdevolkes eine leichte Beute und wurden einfach
überrannt. Doch in der Zeit der höchsten Not, als alles verloren schien, war
wie aus dem Nichts ein Mann aufgetaucht und hatte die Wende
herbeigebracht.
Wer ihn von Ferne sah, war wenig beeindruckt, denn der Mann wirkte
schmächtig und unscheinbar, aber aus der Nähe erkannte man das Feuer, das
in seinen Augen brannte. Mit Überredungskunst und Waffengewalt einte er
die Clans und wurde schließlich der erste König des Pferdevolkes. Fast schien
es, als könne das Volk mit vereinter Kraft den Barbaren widerstehen, aber es
gab zu viele von ihnen, und viele tapfere Pferdelords fielen unter den
Stachelpfeilen