Vier Tage. Erich Puedo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erich Puedo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752907322
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»Du bist auf jeden Fall der erste, der die Sache direkt angesprochen hat.«

      »Und?«

       »Keine Ahnung, was es bedeutet.«

      »Wie? Du machst hier psychologische Spielchen mit unschuldigen Machos und weißt nicht, was es bedeutet, wenn das Ergebnis vorliegt?«

       »Nein. Also... Also noch nicht.«

      »Superspiel! Macht echt Sinn.«

       »Nun zick mal nicht rum! Wo waren wir denn davor stehengeblieben?«

      Stehengeblieben? So viele Themen, bei denen wir hätten `stehenbleiben` können, gab es doch noch nicht in den ersten Minuten unserer Bekanntschaft. Das ist doch ein Fluchtversuch. Ist ihr ihr gescheitertes kleines psychologisches Experiment ein bisschen peinlich? Ich glaube, ja. Klar ist es ihr peinlich. `Wo sind wir denn stehengeblieben`, macht überhaupt keinen Sinn. Gut so. Jetzt nur noch ein paar Sekunden Stille, schweigend den Sieg genießen und dann einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen:

      »Wo wir stehengeblieben sind? Du hast gerade von der Silberhochzeit deiner Eltern erzählt.«

       »Ja, genau... Das war so... Es fing alles an mit meinem Onkel. Du weißt ja, der Onkel, der meine Mutter nicht wirklich leiden kann. Der kam eine halbe Stunde zu spät zum Essen. Ob das Absicht war, weiß ich bis heute nicht. Meine Mutter meint natürlich, dass es Absicht gewesen ist, aber für die Geschichte ist es eigentlich auch egal. Also, du musst dir diese riesige, schön gedeckte Tafel vorstellen. Meine ganze rausgeputzte Familie. Und mitten in den ersten Gang platzt mein Onkel, als wäre nichts dabei. Macht eine große Runde und begrüßt jeden einzelnen mit Küsschen links, Küsschen rechts oder Handschlag mit Schulterklopfen...«

      Sie labert. Sie labert irgendwas. Sie hört einfach nicht auf. Eindeutig völlig frei und völlig spontan erfunden die Geschichte. Und jetzt lässt sie auch noch meinen Arm wieder frei, nur um wild herum zu gestikulieren. Gib mir deinen Arm zurück, ich hab’ mich gerade daran gewöhnt. Und ich mag deinen Arm. Na gut, dann schaue ich dich einfach von der Seite an. Bei der sinnfreien Geschichte kann ich mich auch auf interessantere Dinge konzentrieren. Ich könnte mir jetzt mal ganz in Ruhe überlegen, was das hier gerade wird. Ein ziemlich unkonventionelles Kennenlernen. Sie ist auf jeden Fall ein bisschen verrückt. Aber sie gefällt mir. Ihre Stimme ist einfach sensationell.

       » ... mein Onkel hat sich dann vorgebeugt und dem Silberbräutigam etwas ins Ohr geflüstert. Meine Mutter, die Silberbraut, hat es angeblich verstanden und er soll angeblich gesagt haben...«

      Hmmm... Wieso kann ich mir denn nicht einfach ein paar sinnvolle Gedanken machen? Einfach die Zeit ihrer Geschichte nutzen und mir ein paar schlaue Gedanken machen, wie das hier alles weitergehen soll. Aber irgendetwas in ihrer Stimme zwingt mich zum Zuhören. Normalerweise kann ich mein Gehirn doch immer wunderbar auf Stand by-Modus stellen, sobald der Inhalt vom Small Talk sinnfrei wird. Wahrscheinlich ist es das gelegentliche Hamburgische, das mich hier innerlich schmunzeln lässt und zum Zuhören zwingt. Oder hat sie eine Gabe, zu erzählen? Oder eine Stimme, die für meine Ohren gemacht ist? Keine Ahnung. Oh, ich schmunzle nicht nur innerlich über ihre Geschichte, ich grinse auch äußerlich. Vielleicht ist es auch das nicht ganz verschwinden wollende Gefühl auf meinem Unterarm, das mich grinsen lässt. Ob sie das merkt? Sieht sie mich noch oder ist sie völlig im Bann ihrer eigenen Geschichte? Hält sie mich für einen debilen Schmunzler? Denkt sie, ich finde ihre Geschichte lustig? Oder bin ich nur ein ganz normales Ich-halte-mal-seinen-Arm-an-meine-Brust-und-schaue-wie-er-reagiert-Studienobjekt? Labert sie einfach nur und nimmt mich gar nicht wirklich wahr? Aber ich muss ja nicht alles verstehen. Ich unterstütze ihre Geschichte einfach mit einem gelegentlichen “Hmm“, “Echt?“ oder “Ja?“ und warte mal ab. Ich fühle mich wohl. Sie macht das gut. Ich fühle mich wohl und das in der Nähe einer neu kennen gelernten Frau. Wie lange hatte ich das denn schon nicht mehr? Jetzt erstmal nichts versauen. Ruhig bleiben, sie reden lassen. Es läuft doch...

       »... und dann, völlig aus dem Nichts, fängt meine andere Tante, also nicht die Frau von dem Onkel, der alles verbockt hat, sondern die andere Schwester meiner Mutter. Also sie fängt an zu weinen. Völlig grundlos. Sie hatte mit der ganzen Sache eigentlich nichts zu tun...«

      Aber wie lange hält sie ihren Laber-Modus durch? Bis ich aufgebe? Bis ihr langweilig wird? Soll ich vielleicht doch mal eingreifen? Ach, was soll`s. Nur Small Talk bringt es auf Dauer ja auch nicht. Und auf andere sinnvolle Sachen kann ich mich nebenbei auch nicht konzentrieren.

       »... und dann hat meine Mutter gesagt, ‚Manfred das kannst du nicht machen, so kannst du nicht mit ihr umgehen.’«

      »Du bist also allein hier. Aber warum?«

       »Was?«

      »Warum bist du nach Tarifa gekommen?«

       »Gefällt dir meine Geschichte nicht?«

      »Doch, doch. Aber die hast du mir doch letzte Woche schon erzählt, Schatz.«

       »Ach wirklich?«

      »Wirklich.«

       »Letzte Woche? Bist du dir da sicher?«

      »Ganz sicher.«

       »Das kommt wohl davon, wenn man alleine reist. Man wird ein bisschen wunderlich. Ich war der festen Meinung, wir hätten uns gerade erst kennen gelernt. Komisch irgendwie. Bist du denn allein hier?«

      »Ja, ja. Wie schon gesagt, ich bin allein hier.«

       »Aber warum?«

      »Warum allein oder warum hier?«

       »Beides.«

      »Die kurze, oberflächliche oder die tiefgründige, ausführliche Version?«

       »Ich nehme die kurze, tiefgründige Version.«

      »Unter Zeitdruck?«

       »Ne, aber wir kennen uns ja noch nicht so gut. Nachher bist du so ein Geschichtenerzähler, der nicht mehr fertig wird, und ich falle tot um vor Langeweile.«

      Da spricht sie wohl aus Erfahrung. Bei der Fähigkeit zum inhaltlosen Gelaber hat sie wahrscheinlich schon so Einige auf dem Gewissen. Aber mir hat es ja gefallen, also will ich mal nicht so sein:

      »Und das wäre ja schade drum.«

       »Wenn ich tot umfalle? Auf jeden Fall wäre das schade. Also warum bist du hier?«

      »Also, ich bin hier weil... das ist nicht so einfach... weil... ich wollte endlich mal ein guter Kitesurfer werden.«

       »Junge, Junge. Das ist tiefgründig. Das geht richtig unter die Haut.«

      »Gut, tiefgründig war die Antwort nicht.«

       »Nein.«

      »Ich glaube, ich wollte nicht mehr. Ich hab’ den Alltag zu Hause nicht mehr ertragen. Mir war das alles zu anstrengend. Und irgendwie habe ich keinen Sinn mehr darin gesehen. Nicht, dass ich depressiv oder selbstmordgefährdet gewesen wäre. Aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr jeden Tag zur Arbeit gehen. Vollgas geben und mich am Wochenende von dem Stress erholen. Und das jede und jede Woche wieder. Irgendwann ist dann wieder ein Jahr um und noch eins und noch eins und plötzlich bin ich alt.«

       »Was machst du denn?«

      »Ich bin Arzt.«

       »Oh, ich auch.«

      »Na, dann kennst du das ja.«

       »Na ja... Nein, so kenne ich das eigentlich nicht.«

      »Hast du nie das Gefühl, dass das alles ein bisschen sinnlos ist, was wir da machen?«

       »Na, wir helfen doch. Das ist doch schon mal was.«