Mein Inneres hat sich zu Stein verwandelt. Sich mit Kritias anlegen, das ist wohl das Dümmste was man tun kann. Er ist brutal und gewissenlos. Er ist der mächtigste der Dreissig Tyrannen, die nach der Kapitulation mit Hilfe der Spartaner die Macht übernommen haben. Zuerst waren alle froh, dass der Krieg vorbei war und nun etwas Ruhe einkehren würde. Aber vor allem Kritias hat sofort eine Schreckensherrschaft aufgezogen. Flüsternd berichten die Leute von ermordeten, verschwundenen und in die Sklaverei verkauften Menschen. Mein Herr ist nicht direkt von Kritias abhängig. Sein Schutzherr ist Theramenes, ein freundlicher und umgänglicher Mensch. Wären alle Tyrannen wie er, könnte sich Athen glücklich schätzen und in Frieden und Wohlstand leben. Kritias aber kennt offenbar nur ein Ziel: noch grössere Macht und vor allem Reichtum. Es ist schon ein Vergehen, sich in Frauengemächer einzuschleichen, ganz egal bei wem und wo. Niemand wird dies ungestraft lassen. Bei Kritias aber ist dies der sicherste Weg in ein schreckliches Unheil. Es ist ganz klar: Er wird unsere Familie vernichten. Mit einem Schlag ist der Glückspalast, in dem wir uns wähnten, zerbrochen.
„Rette dich und deine Familie,“ wiederholt Lysias steht auf, legt seine Hand auf meine Schulter.
„Alles Gute, Bruder!“ und dann ist er wie ein Schatten verschwunden.
Ich sitze erstarrt in der Ecke hinter der Stele. All die schrecklichen Dinge, die man hinter vorgehaltener Hand von Kritias erzählt hat, schiessen mir durch den Kopf. Wir Sklaven werden gar nicht beachtet, darum erfahren wir viel mehr, als unsere Herren denken und der Austausch dieser Nachrichten läuft wie geschmiert. Sicher ist alles Mögliche heillos übertrieben, aber wenn nur die Hälfte von dem, was man sich über Kritias erzählt, stimmt, ist es schon ungeheuerlich genug.
Meine Beine wollen erst gar nicht gehorchen, aber dann springe ich auf und laufe so schnell ich kann durch die verwinkelten Gassen zu meinem Haus. Eile tut Not, wer weiss, vielleicht hat Kritias schon davon erfahren und hetzt seine Schergen auf uns. Zuerst renne ich auf dem schnellsten Weg durch die breiten Gassen. Dann weiche ich in die kleineren Gässchen aus, und immer wieder schaue ich zurück. Verfolgt mich jemand? Sind die Leute des Kritias schon auf dem Weg zu unserem Haus?
Haben wir uns alle zu sicher gefühlt, die Zeit des Glückes zu sehr genossen? Ariston fühlte sich immer auf dem Olymp angekommen, wenn er sich im schattigen Hof ausruhen konnte, die Klänge von Phoebes Lyra über ihn hinweg zogen und er Ismene von seiner Arbeit erzählen konnte. Kann ein Mensch noch glücklicher sein, fragte er immer wieder. Ismene hingegen hat sich Sorgen gemacht, aber tun das die Frauen nicht immer? Sie hat von unseren Nachbarinnen gehört, dass ein paar Familien verschwunden sind. Über Nacht, einfach weg.
„Da ist etwas Schreckliches passiert,“ sagte Ismene, „ich traue diesem Kritias nicht, oder besser gesagt, ich traue ihm alles zu. Vielleicht sind die Leute von seinen Schergen umgebracht worden? Oder in die Sklaverei verkauft? Vielleicht sind sie in Laurion, niemand weiss es.“
Ich habe diese Gerüchte auch gehört und gebe zu, auch mich haben sie beunruhigt. Ich bin ja nur der Sklave, aber Aristons Familie ist unterdessen meine Familie, sie liegt mir am Herzen und ich möchte sie beschützen. Allzu grosse Sorgen habe ich mir aber trotzdem nicht gemacht, denn Ariston ist ja nur ein Metöke, wir sind also nicht so wichtige Leute, und Theramenes hält seine schützende Hand über ihn.
Ariston hat immer wieder betont:
„Uns kann nichts passieren, wir sind sicher! Vielleicht sind diese Gerüchte ja gar nicht wahr. Warum sollten nicht ab und zu Familien einfach wegziehen? Sie reisten vielleicht zurück zu ihren alten Eltern irgendwo in den Hügeln? Fanden einen neuen Wirkungskreis in einer grossen, florierenden Hafenstadt? Da gibt es so viele Möglichkeiten, kein Grund, sich Sorgen zu machen.“
Ich war mir da nicht so sicher, dachte aber, ich sehe wohl einfach zu schwarz. Auch Ismene sagte zwar nichts mehr, aber ihr Schweigen sprach für sich. Ihre Sorgen sind immer noch da, da bin ich sicher, weil aber eine ganze Weile keine solchen Schreckensmeldungen mehr die Runde machten, hat bestimmt auch sie ihre Sorgen ein wenig abgelegt und die glücklichen Tage genossen, die ich nun zerstören werde. Die grosse, bunte Seifenblase des Glücks, in der alle sich sicher glaubten, wird durch meine Nachricht zerplatzen.
Es ist bald Abend. Niko sollte aus dem Gymnasium zurück sein. Ariston hat erlaubt, dass er ohne meine Begleitung dorthin geht, er ist ja sechzehn, also schon ein junger Mann und braucht, wie er immer wieder betont, kein Kindermädchen mehr. Ich hoffe sehr, dass er schon zu Hause ist.
Atemlos stürze ich in den Hof, knalle das Tor zu und schaue mich um. Ariston springt erschrocken auf, normalerweise trete ich leise wie ein Schatten ein, aber heute tut Eile Not, da gibt es keine Rücksichten. Sofort erkennt Ariston, dass ich in heller Panik bin, ihm ist klar, dass etwas Ungeheuerliches passiert sein muss. Niko ist nicht im Hof, ist er im Haus oder noch in der Stadt? Ich versuche wieder zu Atem zu kommen und wende mich dann an Ariston:
„Herr, ich muss mit dir sprechen, es ist wichtig, es geht um Leben und Tod.“
Ariston wird bleich, sagt dann aber:
„Sprich, erzähle, was dich in so helle Aufregung versetzt.“
Was ich ihm erzähle, scheint ihn in Stein zu verwandeln. Die Familie des Antores war ihm wohl bekannt, auch er hat vom Verschwinden gehört und – das muss er zugeben – es hat auch ihn beunruhigt, denn er wusste sehr wohl, dass diese Familie niemals einfach abgereist wäre. Weil er aber dem Unheil nicht ins Gesicht sehen wollte, hat er dieses Ereignis einfach tief unten in seinem Bewusstsein vergraben und immer, wenn es an die Oberfläche kommen wollte, hat er eiligst an etwas anderes gedacht.
Aber was die Sache nun wirklich über alle Massen schrecklich macht, ist das dumme Verhalten seines Sohnes. Wie konnte er nur? In Frauengemächer einsteigen! Das ist ein Verbrechen, und das ist ihm nur allzu bekannt!
Ariston ist bald klar, dass die Situation für die ganze Familie verzweifelt ist, er ist wie zu einer Säule erstarrt und sein Gehirn scheint den Dienst zu verweigern. Ich stehe da und warte auf eine Antwort, auf Taten, auf irgendetwas.
Endlich löst sich seine Starre.
„Wo ist Niko,“ fragt er.
„Ich weiss nicht, ich bin ja erst nach Hause gekommen.“
Er ruft nach dem Thraker und verlangt, dass er Niko herbringt. Der aber ist nirgends zu finden. Meine Angst nimmt ungeheure Ausmasse an und ich brauche alle Kraft, um nicht in Panik zu verfallen. Ruhig bleiben, das ist jetzt das Wichtigste, nur mit klarem ruhigem Verstand lässt sich vielleicht noch ein Ausweg finden! Ariston ruft jetzt nach Ismene und schickt alle andern weg. Noch einmal erzähle ich, was passiert ist. Sie wird bleich, ist aber erstaunlich gefasst.
„Auf so etwas habe ich immer gewartet, nicht auf die Dummheit unseres Sohnes, aber auf ein Unglück, das Kritias auf uns nieder fallen lässt.“
Ariston meint nun:
„Was Nikodemos getan hat, ist unverzeihlich und wird schreckliche Folgen haben. Aber wir haben ja immer noch unseren Schutzherrn, Theramenes, vielleicht kann dieser uns helfen.“
„Nein,“ sagt Ismene, „dies ist eine Tat, die auch Theramenes auf das Schärfste verurteilen wird, hier kann auch er uns nicht helfen.“
In diesem Moment wird das Tor aufgestossen und ein atemloser Niko stürzt herein.
„Habt ihr gehört,“ ruft er aufgeregt, „die Familie des Antores ist verschwunden und nicht genug damit, Theramenes ist im Rathaus festgenommen und ins Gefängnis gebracht worden. Man behauptet, er sei zum Tode verurteilt, in Fesseln abgeführt und bereits hingerichtet worden.“
Erst jetzt fallen ihm unsere steinernen Mienen auf.
„Habt