Er wird rot und sagt sofort:
„Nein, auf keinen Fall, das ist doch verboten!“
„Stimmt, es ist verboten, sehr sogar, aber du wurdest gesehen, wie du über die Mauer geklettert bist!“
Jetzt schaut Niko zu Boden.
„Die Tochter von Kritias, ich liebe sie und sie liebt mich, ich kann ohne sie nicht leben!“
Jetzt mische ich mich ein.
„Ja, das haben einige vor dir auch schon gesagt und sie sind alle verschwunden, die meisten samt ihren Familien. Möchtest du sie einmal in Laurion besuchen? Vielleicht sind ein paar davon noch am Leben, zum Beispiel der Sohn des Melanchos oder der des Antenor, die kennst du ja vom Gymnasium.“
Niko erstarrt.
„Es ist also wahr,“ flüstert er. „Was soll nun werden?“
Wie ein kleiner Junge fängt er an zu weinen.
Ich vergesse meine Stellung als Sklave, packe und schüttle ihn.
„Reiss dich zusammen, du hast deine ganze Familie in schreckliche Gefahr gebracht. Hör also auf zu heulen und hilf uns, damit wir uns retten können!“
Wie ein Häufchen Elend sinkt er zu Boden, aber immerhin hört er auf zu weinen.
„Aber was tun wir jetzt?“ fragt Ariston und ringt verzweifelt die Hände.
Ismene nimmt nun plötzlich das Zepter in die Hand und bestimmt ruhig, als sei dies eine ganz normale Entscheidung:
„Wir müssen weg und zwar schnell. Wir können nicht hoffen, dass die Dummheit unseres Sohnes Kritias nicht zu Ohren kommt, vielleicht weiss er es bereits und schickt schon seine Schergen aus. Zudem hast du gehört, Ariston, Theramenes ist tot, er kann uns also auch nicht mehr helfen. Wir verschwinden sofort!“
„Ja, du hast Recht, aber wohin? Wohin können wir fliehen, wo sind wir sicher?“ jammert Ariston.
Er ist völlig ratlos und weiss offensichtlich keinen Rat. Hilfesuchend schaut er zu mir.
„Panos, hilf uns, was sollen wir nur tun!“
Niko schlägt vor:
„Wir können in die Berge fliehen, da gibt es Hütten und Olivenhaine, da können wir uns verstecken.“
„Für eine kurze Zeit wäre dies ein guter Plan, aber nicht über längere Zeit,“ finde ich. „Wir würden sicher von einem Bauern gesehen, der dies auf dem Markt erzählt. Irgend jemand hört davon, zählt zwei und zwei zusammen und meldet dies dem Kritias. Wir wissen ja nicht, ob der nicht sogar einen Preis auf Nikos Kopf aussetzt! Aber wir könnten nach Theben fliehen, das haben vor uns schon viele getan, die sich die Gunst der Tyrannen verscherzt hatten und um ihr Leben fürchten mussten. Sogar Sklaven aus Laurion konnten ab und zu fliehen und suchten ihr Heil dann in Theben, denn die sind unabhängig, dort haben weder die Athener noch die Spartaner das Sagen.“
Alle überlegen angestrengt, so einfach ist eine Flucht nicht, denn wir wollen ja nicht den Schergen des Kritias in die Arme laufen, wir müssen immer einen Schritt voraus denken.
Jetzt hat Ariston seine gewohnte Ruhe wieder gefunden und sagt:
„Hört alle zu! Theben ist zu gefährlich, gerade weil immer wieder Verfolgte dorthin geflohen sind. Sicher wird Kritias einen Schlägertrupp in diese Richtung losschicken. Wir müssen nach Syrakus fliehen. Ich war ja dort, ich habe dort noch Freunde, die werden uns helfen, und der Arm des Kritias reicht nicht so weit. Wir gehen nach Piräus und suchen ein Schiff, das uns dorthin mitnimmt!“
„Piräus,“ meine ich, „Piräus ist zu gefährlich, dort wimmelt es von Soldaten, auch Leute des Kritias sind dort, und die Zehn Tyrannen von Piräus sind ebenso schlimm wie unsere Dreissig. Es wäre kaum möglich, ungesehen auf ein Schiff zu gelangen.“
„Dann muss es eben ein anderer Hafen sein. Wir fliehen nach Korinth, von dort legen immer wieder Schiffe nach Syrakus ab! Aber es ist schon Herbst. Die Seeleute fürchten die Winter-stürme, also müssen wir so rasch als möglich dort eintreffen, um noch einen Platz auf einem der letzten Schiffe zu ergattern. Von Athen nach Korinth führt eine gute Strasse, auf dieser sollten wir rasch vorwärts kommen.“
Alle denken über den Plan nach, dann findet Ismene:
„Das ist schon richtig, wir kommen schnell voran, aber die Reiter des Kritias auch und sogar noch schneller. Wir nehmen erst ein Stück der guten Strasse, müssen dann aber bald in die Hügel ausweichen. Dies ergibt zwar einen weiteren Weg, aber wir sind sicherer!“
„Ja,“ stimmt Ariston zu, „das ist ein guter Plan. Wir erzählen, dass wir das Heiligtum der Demeter in Eleusis besuchen und dort opfern wollen. Das glaubt uns jedermann, bald ist ja das grosse Opferfest. Der Thraker bleibt hier, er wäre nur ein Hindernis auf dem Weg. Alle andern kommen mit.“
Ismene erklärt nun:
„Ich habe immer wieder von verschwundenen Familien gehört und dem Frieden nicht getraut. Daher habe ich bereits Bündel für genau einen solchen Notfall gepackt. Eigentlich können wir sofort aufbrechen.“
Wir alle sind sprachlos. Ariston umarmt Ismene und sagt:
„Die Götter haben mich nicht nur mit einer schönen, sondern auch mit einer klugen Frau beschenkt! Noch im Unglück bin ich ein glücklicher Mann!“
Ismenes Befürchtungen und Sorgen sind immer auf taube Ohren gestossen, jetzt aber hilft uns ihre Weitsicht. Keine Minute können wir nun verlieren, Eile tut not! Ich haste ins Haus, um dem Thraker weiszumachen, dass wir nach Eleusis pilgern wollen und bald wieder zurück sein werden. Ob ihm das Demeterheiligtum bekannt ist, weiss ich nicht, aber er wird dies wohl einfach glauben.
Ich befehle ihm, gut auf das Haus aufzupassen. Aber ich möchte auch, dass er nicht sieht, wie wir weggehen, sonst fallen ihm vielleicht doch noch unsere Bündel auf, die wohl viel zu gross sind für Leute, die nur zwei Tage wegwollen um zu opfern. Er ist ja nicht der Hellste, aber man weiss nie! Sobald wir bereit sind, werde ich ihm noch etwas Wein mit einem Schlaftrunk bringen, damit er unseren Aufbruch nicht mitbekommt.
Aber jetzt muss erst einmal unser genauer Fluchtplan geschmiedet werden. Vor uns steht die erste grosse Hürde: Die Stadttore sind nämlich bereits geschlossen und die Wächter auf den Posten. Die lassen uns nicht so einfach ziehen, wenn sie nicht schon auf uns warten! Nachts kann niemand in die Stadt hinein, aber genauso wenig aus der Stadt hinaus. Man muss einen sehr guten Grund anführen, um die Wächter dazu zu bewegen, die Tore nochmals zu öffnen. Eine Pilgerreise genügt da auf keinen Fall. Was tun?
Ariston, Ismene und ich beraten, Ideen werden vorgetragen und gleich wieder verworfen, auch Niko hilft mit, aber kein Plan scheint durchführbar zu sein. Aus der Stadt hinaus müssen wir aber. Schliesslich lege ich den andern einen wagemutigen Plan vor:
„Wir sollten nicht zum Dipylon, dem Tor in Richtung Eleusis, gehen, sondern zum Acharner Tor Richtung Theben. Dort oben in den Bergen hat Diokles, ein Freund des Kritias, ein Landhaus, auf dem er grosse Feste zu feiern pflegt. Ich kenne ein paar Sklaven aus seinem Haushalt. Wird ein solches Fest gefeiert, müssen sie ihm im Schutze der Dunkelheit Mädchen und Knaben bringen. Die Wachen werden uns sicher anhalten, aber dann behaupten wir, die Frauen seien Freudenmädchen und Niko ein Junge, die wir alle zu einem solchen Fest bringen müssen.“
Niko ist empört, und Ismene weist dies sofort von sich. Aber nach einer Weile merken alle, dass dies wohl die einzigen Möglichkeit ist, die Stadt zu verlassen.
Ich suche nun nochmals den Thraker, ich muss ihn jetzt ausser Gefecht setzen, was sehr einfach ist, er freut sich wie ein Kind, als ich ihm Wein bringe, setzt sich sofort hin und will ihn geniessen. Nochmals schärfe ich ihm ein, dass er gut auf das Haus aufpassen solle, er hat aber nur noch Augen für den Weinkrug, er wird unser Verschwinden nicht bemerken. Alle eilen in ihre Zimmer, um die letzten Sachen zusammenzupacken.
Ariston packt ein, was