Dann hastet er in den Garten. Dort unter dem Feigenbaum ist ein Topf mit Münzen vergraben, der Notvorrat der Familie. Seit dem Hauskauf ist allerdings nicht mehr allzu viel dort drin, aber der Rest wird uns auf der Flucht gute Dienste leisten. Für einen kurzen Moment betrachtet er die zwei goldenen Statere, die aus dem kleinen Münzhaufen herausglänzen, dann aber steckt er alle in einen Beutel und verstaut diesen sicher in seinem Gewand.
Der Thraker schläft selig, der Wein mit dem Schlafmohn hat seine Wirkung getan, das sollte eine Weile reichen.
Ismene tritt mit Phoebe an der Hand in den Hof. Die Sklavin folgt mit den Bündeln.
„Sie glauben beide, dass wir ein Gelübde erfüllen und zum Heiligtum der Demeter pilgern. Vorläufig brauchen sie noch nicht mehr zu wissen. Sie merken dann noch früh genug, was wir tun und werden sich ängstigen,“ flüstert Ismene.
Nun sind wir alle im Hof versammelt, sechs reisefertige Leute, die das kaum bezogene neue Haus verlassen und in eine ungewisse Zukunft aufbrechen. Wie schnell ist doch unser Glück zerbrochen!
Ismene bestimmt nun:
„Wir alle tragen unsere Bündel, Anisa hilft ab und zu Phoebe, aber alle müssen ihren Teil tragen. So kommen wir schneller voran, und es ist den Göttern wohlgefällig.“
Anisa händigt Ismene das Bündel aus, sie ist offensichtlich sehr erstaunt, wagt aber nicht, Fragen zu stellen.
Plötzlich fallen Ariston meine uralten Sandalen auf. Diese werden kaum lange halten. Er schickt Niko zurück in das Haus.
„Hol alle Sandalen, die du noch finden kannst. Wir alle brauchen gute Schuhe, es ist ein weiter Weg.“
„Herr,“ meint nun Anisa, die Sklavin. „Unsere Nachbarn sind letztes Jahr dorthin gepilgert, es ist gar nicht so weit.“
Wenn sie nur wüsste! „Trotzdem,“ findet er, „ich will, dass alle gute Schuhe tragen, das müssen wir schon aus Respekt vor der Göttin.“
Das scheint gut anzukommen, alle können nun in guten neuen Schuhen marschieren, und in meinem Bündel ist noch ein weiteres neues Paar, auch diese werden uns wohl noch gute Dienste leisten.
Dann eilt Ariston ein letztes Mal zurück ins Haus und kommt mit zwei Schwertern und einem langen Dolch zurück.
Ismene erschrickt: „Woher hast du diese Waffen, nur Bürger dürfen jetzt Waffen haben, du hast doch deine ganze Rüstung mit Lanze und Schwert abgeben müssen?“
Auch Niko und ich sind starr vor Staunen.
„Natürlich habe ich meine ganze Rüstung abgegeben, aber man weiss ja nie welche Wendungen das Schicksal bereithält. Daher habe ich die andern Waffen versteckt, so gut, dass offenbar niemand sie je gesehen hat. Sie lagen ganz zufrieden oben auf den Dachbalken. Seid froh, dass ich sie behalten habe.“
Er gibt Niko ein Schwert und mir den Dolch und ermahnt uns, die Waffen gut versteckt unter den Kleidern zu tragen. Niko nimmt sein Schwert, betrachtet es und tritt dann zu mir.
„Wir tauschen, ich glaube, du bist der bessere Schwertkämpfer! Du hast mich in die Fechtkunst eingeführt, aber es dauert wohl noch eine Weile, bis ich so gut bin, wie du!“
Ich staune, Niko scheint in der letzten Stunde plötzlich gereift zu sein.
Über Stock und Stein : Attika, 404 vor Christus ̶ Panos
Wir stossen leise das Tor auf und treten hinaus auf die Gasse. Alles ist dunkel und still. Auch der Mond ist noch nicht aufgegangen, aber das macht nichts, die nähere Umgebung ist uns gut bekannt, und bis wir zu den Aussenbezirken der Stadt gelangen, wird er wohl aufsteigen. Zudem ist es gar nicht schlecht, wenn wir vorerst einmal nicht gesehen werden. Wir halten alle dazu an, nicht zu sprechen und leise zu gehen. Phoebe fängt immer wieder an zu plappern, aber Ismene weist sie streng zurecht.
Ich kenne das Gewirr der Gassen am besten, ich war es ja, der für alle Botengänge zuständig war, daher weise ich den Weg. Ein entferntes Geräusch beunruhigt mich, ich bedeute allen, still zu sein. Alle horchen, scheinen aber rein gar nichts zu hören.
„Was ist los?“ flüstert Niko.
Ich halte die Hand hoch und jetzt hören es alle: laute, energische Schritte und Geklirr. Soldaten? Waffen? Wir alle erstarren. Ich zeige auf einen dunklen Hauseingang, in den wir rasch flüchten und uns an die Mauer drücken. Anisa schaut mich aus grossen, erschrockenen Augen an. Sie hat gemerkt, dass unsere Reise wohl nicht nur eine Pilgerfahrt ist. Wir alle sind mucksmäuschenstill, das Geräusch kommt näher, und dann marschieren ein paar Wachen direkt vor uns durch die Gasse. Wir warten, bis sich der Klang der Schritte und das Geklirr der Waffen in den andern Nachtgeräuschen verlieren.
„Suchen die uns?“ wispert Ariston, der kreidebleich geworden ist.
„Kaum,“ sage ich, „sie waren gar nicht in Eile, das war wohl eher ein ganz normaler Rundgang, aber es ist doch besser, dass sie uns nicht gesehen haben.“
Über die Dächer steigt nun der Mond auf und dies hilft uns, durch die letzten Häuser der Stadt die Strasse zum Tor nach Acharnai zu finden. Die Gasse vor dem Tor ist eng und dunkel, aber die Wachen sind trotzdem von weitem zu sehen. Jetzt kommt es darauf an! Jetzt müssen wir unsere Rollen gut spielen!
Ariston nimmt sein Herz in beide Hände, atmet tief durch und marschiert vor unserer kleinen Truppe energisch auf das Tor zu, ich bilde die Nachhut. Unsere Schwerter hängen wir nun so um, dass die Wachen sie sehen müssen, und wir beide plustern uns auf, als seien wir auf einer wichtigen Mission.
Wie erwartet rufen die spartanischen Wachen: „Halt, das Tor ist zu.“
Ariston bittet den, der ihm der Anführer zu sein scheint:
„Öffne das Tor mein Lieber, schau, wir müssen die Leute da zum Landhaus des Diokles bringen, der feiert ein Fest.“
Mit dem Kopf zeigt er zurück auf seine Familie.
Der Wächter betrachtet ihn lange:
„Ich sehe, du hast ein Schwert, du bist also ein Bürger, ich weiss, dass die Herren mit den grossen Anwesen oft feiern und dazu noch etwas Unterhaltung brauchen!“
Er zwinkert listig mit den Augen. Ich weiss genau, dass Ismene dem Kerl den Hals umdrehen könnte, hoffe aber, dass sie und alle andern brav ihr Rollen weiter spielen. Ein Blick auf unsere kleine Gruppe zeigt, dass sie den Ernst der Lage verstanden haben, sie stehen alle mit gesenkten Köpfen da.
Beide Wächter überlegen.
„Wir dürfen das Tor nicht einfach für jeden öffnen, das verstehst du doch sicher. Ihr müsst warten bis zum Morgengrauen, dann geht es.“
„Nein, das geht gar nicht, wo denkst du hin, der Herr will die Leute noch in dieser Nacht, wenn wir erst beim Morgengrauen die Stadt verlassen können, kommen wir viel zu spät.“
Wieder denken die Wächter nach, sie wissen offensichtlich nicht, was sie tun sollen.
Da schalte ich mich ein:
„Hör zu, Diokles ist ein Freund des Kritias, vielleicht ist sogar Kritias selber unter den Gästen. Er ist sicher erbost, wenn die versprochenen Mädchen und Knaben nicht zur Verfügung stehen.“
Die Wächter lassen ihre Blicke über die kleine Schar hinter mir schweifen.
„Sie sehen aber gar nicht aus wie Freudenmädchen, in diesen dunklen Kleidern werden sie wohl keine Freude bereiten.“
„Ja, was denkst du denn, was sie in den Bündeln tragen? Sie können doch nicht in den leichten, durchsichtigen Kleidchen durch die Stadt laufen!“
Das leuchtet dem Wächter ein und jetzt bemerkt er auch noch Niko.
„Ach, ein Junge ist noch dabei, da wird sich