Der Stempelschneider. Jürg und Susanne Seiler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürg und Susanne Seiler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742730275
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Holzbank unter dem Rebendach sitzt, ist der Lebensabend gekommen. Er hat so viel erlebt, durchgestanden, sich so viel erkämpft und immer wieder das Beste für seine Familie gesucht. Ismene, seine Frau, kommt aus dem Haus und setzt sich zu ihm, es war immer ihr Traum, ihre alten Tage in ihrer Heimat, ihrem geliebten Athen verbringen zu können, und jetzt sitzen sie hier in Amphipolis und werden wohl kaum mehr nach Athen zurückkehren können. Aber sie beide strahlen Zufriedenheit aus.

      „Athen,“ lächelt Ismene, „ja Athen war immer meine Heimat und ich dachte, nur dort könnten wir richtig glücklich sein. Wie falsch war das, Glück liegt nicht an einem Ort, in einer Stadt oder in einem Haus, Glück, das weiss ich jetzt, liegt im Herzen und daher findet man es, wo immer man ist. Die Menschen rennen dahin und dorthin, jagen dem Glück nach und merken nicht, dass sie es bei sich tragen.“

      „Ja,“ meint Ariston, „wir sind glücklich hier, nicht wahr, Ismene? Wichtig ist ja nur, dass die Familie beisammen ist.“

      Ja, das haben wir immer geschafft, wenn wir auch ab und zu den Neid der Götter zu spüren bekamen. Wir werden beisammen bleiben, unsere Geschicke sind schon so lange miteinander verknüpft.

      Ariston

      Ismene und ich sitzen unter der Rebenlaube und lassen den Tag in Stille verklingen. Heute vor achtzig Jahren kam ich in Athen zur Welt, ein langes Leben also, das nicht jedem beschieden ist. Meine ganze Familie hat sich in diesen Tagen bei uns versammelt, Helena ist mit ihrem Mann und den Kindern von ihrem Landsitz bei Idomenai an der Grenze zu Päonien angereist, und auch Niko hat sich für einige Wochen aus seinem Soldatenleben verabschiedet. Panos schaut von seinem Platz aus zu uns hinüber. Denkt er ab und zu an eine Rückkehr nach Athen? Für Ismene und mich kommt das sicher nicht mehr in Frage, wir sind nun hier so daheim, wie man nur daheim sein kann. Wir sind geachtete Bürger dieser Stadt geworden, auch der Archon schaut hie und da vorbei, fragt mich um meine Meinung aus meiner reichen Erfahrung. Weshalb sollten wir uns noch einmal an einem neuen Ort eingewöhnen müssen?

      Natürlich stammen wir aus Athen, aber die Stadt heute ist nicht mehr die Stadt, die wir kannten und liebten, dorthin umzuziehen müsste zwangsläufig in einer Enttäuschung enden. Zudem wird die Region ständig von Kämpfen zwischen Spartanern, Thebanern, Athenern und wem sonst noch erschüttert. Hier hingegen sind wir von Ruhe und Frieden umgeben.

      Heute Vormittag hat mich auch der Münzmeister besucht. Er hat mir zum Geburtstag gratuliert und ein ganz spezielles Präsent mitgebracht: Die erste aus einer neuen Serie von Tetra-drachmen mit dem Apollokopf, wie ich ihn vor zwei Jahren entworfen und zur Ausführung vorgeschlagen hatte, das Gesicht von vorne und etwas zur Seite gedreht, eine Huldigung an meinen Lehrmeister Eukleidas von Syrakus. Er machte ein ziemliches Geheimnis um diese neue Serie, aber als er mir diese Münze aushändigte, strahlte er über sein ganzes rundes Gesicht. Diese Münze ist ein ganz besonderes Geschenk und eine überraschung für mich, denn sie haben auf der Rückseite, unter der Fackel, ein grosses „A“ eingeprägt.

      „Siehst du,“ meinte er zu mir, „so wird dein Name, Ariston, als der des grossen Künstlers und Herstellers der wundervollsten Stempel, die ich je gesehen habe, immer in Erinnerung bleiben.“

      Ich halte jetzt die Münze wieder in meiner Hand, betrachte sie, und auch Ismene blickt auf sie herab. Dann legt sie ihre Hand auf die meine und sagt verträumt:

      „Wie viele Erinnerungen kann doch eine einzige Münze wachrufen.“

Grafik 6

      Tetradrachme, Amphipolis, geprägt 368/67 vor Christus

      Numismatica Ars Classica, Auktion 46, Los 230, www.arsclassicacoins.com

      Das Fest : Athen, 405 vor Christus ̶ Panos

      Schon hat die Morgenröte mit zartem Finger den Himmel über den Hügeln rosa gefärbt, es ist Zeit aufzustehen und meinen Pflichten nachzugehen. Auf dem alten Feigenbaum im Hof zwitschern schon die ersten Vögel, im Wasserbecken im Hof spiegeln sich schwach die letzten Sterne und in der Ferne hört man Hundegebell. In unserem Haus aber herrscht noch verschlafene Stille. Erst seit wenigen Wochen wohnen wir in diesem geräumigen Haus. Es ist ein wunderbarer Platz für uns alle. Der grosse Hof mit der gedeckten Terrasse lädt an heissen Tagen zum Verweilen, das Wasserbecken in der Ecke ist so tief, dass der Thraker, der Sklave, der die niedrigen Arbeiten ausführt, nicht mehrmals am Tage Wasser holen muss, um es aufzufüllen, im Gästeraum kann mein Herr seine Gäste bewirten, die Frauengemächer im oberen Stock sind geräumig. Natürlich habe ich diese nie gesehen. Anisa, die Sklavin, die meine Herrin und die kleine Tochter betreut, hat mir aber die Gemächer genau geschildert.

      Auch mein Herr und sein Sohn sind glücklich über ihre neuen Räume und vor allem ist die Werkstatt viel grösser und viel heller als die vorherige, ein wichtiges Detail, denn mein Herr ist ein Handwerker. Er fertigt Schmuckstücke aus Gold und Silber, vor allem aber graviert er die Stempel, mit denen Münzen geschlagen werden. Er ist ein Meister seines Fachs, unübertroffen weit und breit. Er stellt Stempel für alle Münzen her, vom winzigen Tetartemorion, das nicht grösser ist als der Fingernagel eines Neugeborenen, über den nur wenig grösseren Obolos, bis zur grössten, der Tetradrachme. Oft schaue ich ihm zu, wenn ich keine andere Arbeit habe, und bewundere, wie er winzig kleine Details wie die Federn der Eule oder die Helmzier der Athene auf diese Stempel zaubert.

      Im alten Haus mussten der Thraker und ich mit einer kleinen Schlafstätte hinter dem Haus vorlieb nehmen, im Winter war es kalt und feucht und im Sommer brachte kein einziges Lüftlein Kühlung in diesen Backofen. Jetzt habe ich mein eigenes, zugegeben kleines Zimmer, aber es ist angenehm und eine grosse Verbesserung im Vergleich zu meiner vorherigen Unterkunft. Ja, ich bin ein Sklave. Zuerst war ich Hauslehrer für den Sohn, Nikodemos, der unterdessen aber im Gymnasium ausgebildet wird. Meine Pflichten sind vielfältig, ich bin so etwas wie der Hausmeister, zuständig für die Begleitung meines Schützlings zum Gymnasium, jedoch auch für den reibungslosen Ablauf im Hause. Meine Stellung ist zurzeit nicht schlecht, trotzdem bin ich immer noch und vor allem ein Sklave.

      Das war nicht immer so. Vor nicht allzu langer Zeit war ich es, der von einem Sklaven unterrichtet und zur Ausbildung ins Gymnasium begleitet wurde. Ich beachtete unsere Sklaven kaum, sie waren einfach da, hatten da zu sein, wann immer ich etwas wollte, nie haben wir sie gelobt, aber jedes Versäumnis wurde bestraft. Heute bin ich der Sklave und bereue diese Haltung bitter. Mein Herr ist wohl der bessere Meister, als wir es damals waren. Werden die Götter mich dafür bestrafen?

      Mein Schicksal wendete sich, als Melos von den Athenern belagert wurde. Mein Vater Kleopatros und mein älterer Bruder Kleombrotos kämpften an vorderster Front, aber ich war noch zu jung, um als Schleuderer oder Bogenschütze mitzukämpfen, obgleich mich darin auch von den älteren kaum einer übertraf. Ich war dazu verdammt, zusammen mit den Dienern und Frauen zu Hause auf Nachricht zu warten. Sorgen machten wir uns keine. Waren denn unsere Streitkräfte nicht die tapfersten weit und breit? Hatten wir die Athener nicht kürzlich schon zweimal geschlagen? Würden uns nicht auch noch die Spartaner zu Hilfe kommen? Waren unsere Mauern, unsere Verteidigungslinien nicht die besten?

      Je länger die Belagerung dauerte, desto mehr wich aber die Gelassenheit der Unruhe. Das Essen und das Wasser in der Stadt wurden knapp, Gerüchte machten die Runde und bald breitete sich Besorgnis aus. Wir alle hofften auf Hilfe von aussen, vor allem von den Spartanern, aber ein Tag nach dem andern verging und weit und breit war nichts von einer Armee zu sehen, die uns zu Hilfe eilen wollte. Immer wieder wurde ich zusammen mit meinem Sklaven ausgeschickt, um in Erfahrung zu bringen, was sich an den Mauern abspielte. Das Bild war immer dasselbe.

      Eines Tages wurden wir wieder ausgeschickt, um Nachrichten einzuholen.

      Je näher wir an die Mauern kamen, desto schrecklicher wurde der Lärm. Vorsichtig näherten wir uns der Stelle, an der mein Vater und mein Bruder das Kommando hatten. Ich kletterte hinauf zu meinem Bruder, der mich packte und hinter einen Mauervorsprung zog.