Kiez, Koks & Kaiserschnitt. Christian U. Märschel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian U. Märschel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847621805
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      Ich ging zu Fuss die etwa dreihundert Meter zu der kleinen Siedlung, in der sie wohnte. ‚Little-Austria’ wurde die Siedlung genannt, weil ihre Häuser im österreichischen Stil erbaut waren, Häuser mit zwei Etagen und einer weiteren in der Dachschräge, mit Fenstern die bis fast auf den Boden reichten. Die Häuser waren weiss gestrichen und hatten graue fensterläden. Es waren Mietshäuser für jeweils vier Parteien, umgeben von einem grossen Garten.

      Anjas Haus lag in einer Sackgasse und war nur von der linken Sete zu erreichen, das Wohnzimmer von Anjas Eltern lag aber auf der rechten Seite. In den Fenstern der linken, mir zugewandten Wohnung brannte Licht. „... aber sei vorsichtig, die Nachbarn dürfen nichts merken!“ hatte Anja gesagt. Mir fiel ein, dass ich robben könnte, denn nicht einmal eine gebückte Haltung hätte mich vor neugierigen Blicken aus den fast bodentiefen Fenstern bewahrt. Aber robben bis hin zu Anjas Wohnzimmer, also über die gesamte Breite des Hauses, und das auf dem beleuchteten Gehweg? Der Garten hingegen lag im Dunklen, ebenso der Eingang zu diesem. Wohl müsste ich bei dieser Aktion drei viertel des Hauses auf dem Bauch liegend umrunden. Was tut man nicht alles für einen heissen Abend mit Anja...

      Ich weiss noch dass das Gras feucht war und ich ein weisses Tshirt anhatte. Ich weiss jedoch nicht mehr, wie ich meiner fürsorglichen Mutter damals die Flecken auf dem T-Shirt erklärte, als sie es in der Wäsche fand.

      Robbend wie ein Soldat in Feindannäherung umrundete ich das Haus. In der Mitte meines Vorhabens angekommen und auf der Rückseite des Hauses, wo die Schlafzimmer lagen, stellte ich fest, dass hier alles dunkel war. Horchen, lauschen. Den Mund geöffnet, damit ich bei der Anstrengung nicht laut durch die Nase atmen musste, versuchte ich zu hören, ob die Luft rein war und ich mich aufrichten konnte. War sie, die Luft. Gerade als ich mich halb aufgerichtet hatte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie in einem der Schlafzimmer das Licht eingeschaltet wurde. Innehalten. Den Bruchteil einer Sekunde später schon riss jemand die Gardine zurück und das Fenster auf. Stellung! Hinlegen, in den Dreck! Nachbar-Angriff! Ich robbte ganz an das Haus heran, lag mit meinem Oberkörper auf oder in dem Blumenbeet unter dem geöffneten Fenster. Nicht herauslehnen, bitte nicht! , flehte ich innerlich, immer noch durch den Mund atmend, es hörte sich für mich wie ein Keuchen an. Hoffentlich bin ich bald bei Anja. Ich weiss nicht, wie lange ich regungslos unter dem geöffneten Schlafzimmerfenster lag, nach unendlich erscheindener Zeit robbte ich ein Stück zurück und sah auf. Das Fenster war offen, das Licht aber aus. Zu meinem Schrecken stellte ich hierbei fest, dass nun in allen mir noch bevorstehenden Schlafzimmern auch Licht brannte! Schlafenszeit, anscheinend.

      Gefühlte Stunden später war ich zu drei vierteln um das Haus herum, ohne Feindkontakt, und vor Anjas Wohnzimmerfenster. Ich klopfte aus meiner liegenden Haltung vorsichtig gegen die Scheibe, in der Stille der Nacht hörte es sich an wie ein Trommelwirbel. Anja machte das Fenster auf und kicherte leise, als sie mich dreckverschmiert durch das Fenster ins Wohnzimmer krabbeln sah. Sogleich riss sie mir das T-Shirt vom Leibe, schliesslich lag im Wohnzimmer weisser Teppichboden, wie sie entschuldigend sagte, auf dem sie sich danach sogleich lüstlich und genüsslich und erwartungsvoll räkelte. Sie hatte wirklich kaum was an am Anfang.

      Kurz danach gar nichts mehr.

      Es war das schönste und aufregenste Abenteuer, dass ich je mit Anja hatte. Wir haben alles ausprobiert, was wir je in meinem Jugendzimmer bei Mutter zuhaus geplant hatten, aber nie durchführen konnten. Geschlafen haben wir nie mit einander. Das war damals noch nicht soweit. Ich war noch nicht so weit. Bin es heute irgendwie noch nicht.

      Für die Augen und Finger gab’s eine zuckersüsse Anja, für die Ohren Simon & Garfunkles „Bright Eyes“.

       Das erste Mal - und immer wieder

      Bitterkalt, der Gehweg war rutschig.

      Kein Wetter eigentlich, um ständig auf der selben Strasse auf und ab zu laufen. Ich weiß nicht, zum wievielten Male schon, aber so langsam konnte ich die Reihenfolge der Läden auswendig. Wieder kam ich an einem vorbei, schaute flüchtig, wie zufällig hin und versuchte mit diesem kurzen Blick soviel Informationen wie möglich zu sammeln, die mir in etwa Aufschluß darüber geben konnten, was mich drinnen erwarten würde, wenn ich erstmal drin wäre.

      Zwei ältere Männer, die anscheinend irgendwas mit dem Laden zu tun haben mußten, gingen vor der Tür auf und ab, sprachen ab und zu –mal kürzer und mal länger- mit Männern, die vorüber gingen, seltener mit Pärchen, nie mit Frauen. Die meisten der Passanten gingen weiter, manchmal gingen die beiden Männer auch zusammen mit Leuten, mit denen sie gerade vorher gesprochen hatten, in den Laden hinein. Dann öffnete sich für einen kurzen Moment die elektrische Schiebetür aus Glas, mit den bunten Bildern darauf, wie von Geisterhand. Hinter der Tür kam dann noch ein schwerer Samtvorhang, der sich ebenfalls durch den geübten, sicheren griff der besagten Männer kurz in der Mitte öffnete und den Blick freigab auf flackerndes Licht und Rauch - oder Nebel. In diesem Moment wurde auch die Musik, die man dumpf und leise draußen hörte, für einen kurzen Moment lauter. Dann schloß sich erst der rote Vorhang wieder hinter den Leuten, die Glasschiebetür schloss sich wie von Geisterhand.

      Beide Männer waren nun drinnen. Keine Gefahr mehr, daß mich einer von ihnen ansprach. Ich konnte in Ruhe den Laden beobachten und betrachten.

      Der Eingang lag in der Mitte des Gebäudes und war trichterförmig zurückgebaut. Links und rechts neben dem Eingang waren Glasscheiben, durch die man aber nicht hindurchsehen konnte, weil riesige Fotos von spärlich bekleideten Frauen, die an einer Bar saßen, darauf geklebt waren. Über dem Eingangsbereich, über die gesamte Breite des Hauses verteilt, hingen fünf Fernseher, auf denen –ebenfalls spärlich bekleidete- Tänzerinnen zu sehen waren.

      Die Glastür rutschte wieder zur Seite, die beiden Männer, die zum Laden gehörten kamen wieder heraus!

      Jetzt unauffällig verhalten! Weggucken, ich bin nur ein zufälliger Passant.

      Keineswegs dürfen sie merken, was ich tatsächlich im Schilde führe! Ruhig weitergehen! Irgendwas hält mich fest, für eine kurze Sekunde merke ich nicht, das es die Hand eines der Männer ist! Ich drehe mich erschrocken und ruckartig um! Ich war noch nie ein Held! Ich weiche einen Schritt zurück, da passiert’s auch schon:

      „He junger Mann, Du läufst doch schon den ganzen Abend hier um! Komm doch mal rein, drinnen is’ schön warm und Haufen netter Mädchen gibt’s auch! Die haben alle Lust auf nen jungen strammen Riemen! Komm mal rein, komm mit, ich zeigs Dir mal!“

      „Ausgaang bis Zapfenströich, Kameroden! Wehee, um zeeehn is nich wieder jeeder in seiner Kojää!“ höre ich noch heute die langgezogene, rauhe und durchdringende Stimme des Stuffz vor unserem ersten Ausgang aus der Kaserne, Pinneberg, Luftwaffengrundausbildung. Die Wehrpflicht hatte mich ins Hamburger Umland gebracht – und endlich auf die Reeperbahn, von der ich als Kind, beim Fernsehen mit meiner Mutter, zum ersten Male hörte.

      Ich war um zehn wieder in der Koje.

      Mit klopfendem Herzen. Ich hab’s getan. Ja! Ich war drin! Auch wenn die beiden Männer vor der Tür recht schnell rausgefunden hatten, was ich wirklich im Schilde führte. Ich wollte ja auch rein! Und ich bin drin gewesen. Ich war noch nie ein Held. Aber ich wollte einer werden.

      So begann sie dann, meine große Liebe. Im bitterkalten Winter neunzehnhundertfünfundachtzig in Hamburg.

      Meine Liebe zu dieser Stadt – und besonders zur Reeperbahn, an die ich heute noch fast täglich denke.

       Auf nach Hamburg

       Neun­zehn­hun­dert­vie­rund­neun­zig ha­be ich für ei­ne Pro­mo­tio­na­gen­tur aus der Nä­he von Ham­burg ge­ar­bei­tet.

      Auf ei­ner Pro­dukt­schu­lung am­ Nie­der­rhein, wo­ ich da­mals noch wohn­te, lern­te ich das net­te, aber auf den er­sten Blick et­was grau und un­in­te­res­sant, je­doch nicht un­at­trak­tiv wir­ken­de Fräu­lein W. aus Düs­sel­dorf ken­nen.

      Ein