Aber die beiden Mädchen kamen gar nicht heran, drängten sich an Herrn Dr. Mohnen, der ihre Gläser füllte und ihnen zweideutige Geschichten erzählte.
Die Fürstin kam; Frank Braun stand auf und bot ihr seinen Platz. »Bleiben Sie, bleiben Sie!« rief sie. »Ich habe ja noch gar nicht mit Ihnen plaudern können!«
»Einen Augenblick, Durchlaucht, ich will nur eine Zigarette holen,« sagte der Student. »Und mein Onkel freut sich schon die ganze Zeit darauf, Ihnen seine Komplimente machen zu dürfen.«
Der Geheimrat freute sich gar nicht darauf, hätte viel lieber die kleine Prinzess da sitzen gehabt. Nun aber unterhielt er die Mutter –
Frank Braun trat zum Fenster, als der Justizrat Frau Marion zum Flügel führte. Herr Gontram setzte sich nieder, drehte sich im Klavierstuhl und sagte: »Ich bitte um ein wenig Ruhe. Frau Marion wird uns ein Liedchen vorsingen.« – Er wandte sich zu seiner Dame. »Na, was denn, liebe Frau? – Wahrscheinlich wieder mal ›Les Papillons‹? Oder vielleicht ›Il baccio‹ von Arditi? – Na, geben Sie nur her!«
Der Student schaute hinüber. Sie war immer noch schön, diese alte, aufgemachte Dame, und man glaubte ihr schon die vielen Aventüren, die über sie erzählt wurden. Damals, als sie die gefeiertste Diva Europas war. Nun aber lebte sie schon seit bald einem Vierteljahrhundert in dieser Stadt, still, zurückgezogen in ihrer kleinen Villa. Machte jeden Abend einen langen Spaziergang durch ihren Garten, weinte dort eine halbe Stunde an dem blumigen Grabe ihres Hündchens –
Jetzt sang sie. Längst gebrochen war diese herrliche Stimme, aber doch war ein seltener Zauber in ihrem Vortrage aus alter Schule. Auf den geschminkten Lippen lag das alte Lächeln der Siegerin und unter dem dicken Puder versuchten die Züge ihre ewige Pose bestrickender Lieblichkeit. Ihre dicke, verfettete Hand spielte mit dem Elfenbeinfächer und die Augen suchten wie einst aus allen Ritzen den Beifall zu ziehen.
O ja, sie passte hierher, Madame Marion Vère de Vère, passte in dies Haus, wie alle andern, die zu Gast waren. Frank Braun sah sich um. Da sass sein teurer Onkel mit der Fürstin, und hinter ihnen, an die Tür gelehnt, standen Rechtsanwalt Manasse und Hochwürden Kaplan Schröder. Dieser dürre, lange, schwarze Kaplan Schröder, der der beste Weinkenner war an der Mosel und an der Saar, der den erlesensten Keller führte und ohne den eine Weinprobe schier unmöglich schien im Lande. Schröder, der ein unendlich kluges Buch geschrieben hatte über des Plotinus krause Philosophie und der zugleich die Possen schrieb für das Puppentheater des Kölner Hänneschen. Der ein glühender Partikularist war, der die Preussen hasste, der, wenn er vom Kaiser sprach, nur an den ersten Napoleon dachte und alljährlich am fünften Mai nach Köln hinüberfuhr, um in der Minoritenkirche dem feierlichen Hochamte für die Toten der ›Grande Armée‹ beizuwohnen.
Da sass der gewaltige, goldbebrillte Stanislaus Schacht, cand. phil. im sechzehnten Semester, zu behäbig, zu faul sich auch nur zu erheben vom Stuhle. Seit Jahren wohnte er, als möblierter Herr, bei Frau Witwe Prof. Dr. v. Dollinger – – nun waren ihm längst Hausherrnrechte dort eingeräumt. Und diese kleine, hässliche, überschlanke Frau sass bei ihm, füllte ihm immer von neuem das Glas, lud immer höhere Portionen Kuchen auf seinen Teller. Sie ass nichts – aber sie trank nicht weniger wie er. Und mit jedem neuen Glas wuchs ihre Zärtlichkeit; liebend strich sie die knochigen Finger über seine mächtigen Fleischerarme.
Neben ihr stand Karl Mohnen, Dr. jur. und Dr. phil. Er war ein Schulkamerad von Schacht und dessen grosser Freund, studierte nun ebensolange wie der. Nur musste er immer Examina machen, musste immer umsatteln; augenblicklich war er Philosoph und dicht vor seinem dritten Examen. Er sah aus wie ein Kommis im Warenhaus, rasch, hastig und immer bewegt; Frank Braun dachte, dass er sicher noch einmal zum Kaufmann übergehen würde. Da würde er gewiss sein Glück machen, so in der Konfektionsbranche, wo er Damen zu bedienen hätte. Er suchte immer nach einer reichen Partie – – auf der Strasse. Machte Fensterpromenaden, hatte auch ein artiges Geschick, Bekanntschaften anzuknüpfen. Besonders reisende Engländerinnen krallte er gern an, aber leider – hatten sie nie Geld.
Noch einer war da, der kleine Husarenleutnant mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, der jetzt plauderte mit den Mädchen. Er, der junge Graf Geroldingen, der in jeder Theatervorstellung hinter den Kulissen zu finden war, der ganz hübsch malte, talentvoll geigte und dabei doch der beste Rennreiter war im Regiment. Und der nun Olga und Frieda etwas von Beethoven erzählte, was sie grässlich langweilte und was sie nur anhörten, weil er ein so hübscher kleiner Leutnant war.
O ja, sie gehörten alle hierher, ohne Ausnahme. Hatten alle ein wenig Zigeunerblut – trotz ihrer Titel und Orden, trotz Tonsuren und Uniformen, trotz Brillanten und goldenen Brillen, trotz aller bürgerlichen Stellungen. Waren irgendwo angefressen, machten irgendwie kleine Umwege, seitab von den eingefassten Pfaden bürgerlichen Anstandes.
Ein Gebrüll ertönte, mitten hinein in Frau Marions Gesang. Es waren die Gontrambuben, die sich prügelten auf der Treppe; ihre Mutter ging hinaus, sie zur Ruhe zu bringen. Dann kreischte Wölfchen im Nebenzimmer und die Mädchen mussten das Kind hinauftragen in die Mansarden. Sie nahmen Cyklop mit, betteten beide zusammen in den engen Kinderwagen.
Und Frau Marion begann ihr zweites Lied: den ›Schattentanz‹ aus Meyerbeers Dinorah.
– Die Fürstin fragte den Geheimrat nach seinen neuesten Versuchen. Ob sie wieder einmal kommen dürfe die merkwürdigen Frösche zu sehen, die Lurche und die hübschen Äffchen?
Ja gewiss, sie möge nur kommen. Auch die neue Rosenzucht solle sie sich ansehen, in seinem Mehlemer Schlösschen, und die grossen weissen Kamelienhecken, die sein Gärtner dort anpflanzte.
Aber der Fürstin waren die Frösche und Affen interessanter als die Rosen und Kamelien. Und so erzählte er von seinen Versuchen der Übertragung von Keimzellen und der künstlichen Befruchtung. Sagte ihr, dass er gerade ein hübsches Fröschlein da habe mit zwei Kopfenden und ein anderes mit vierzehn Augen auf dem Rücken. Setzte ihr auseinander, wie er die Keimzellen ausschneide aus der Kaulquabbe und sie übertrage auf ein anderes Individuum. Und wie sich die Zellen fröhlich weiter entwickelten im neuen Leibe und nach der Verwandlung Köpfe und Schwänze, Augen und Beine hervortrieben. Sprach ihr dann von seinen Affenversuchen, erzählte, dass er zwei junge Meerkatzen habe, deren jungfräuliche Mutter, die sie nun säugte, nie einen männlichen Affen sah –
Das interessierte sie am meisten. Sie fragte nach allen Details, liess sich bis ins kleinste genau auseinandersetzen, wie er es anstelle, liess sich alle griechischen und lateinischen Worte, die sie nicht verstand, hübsch in deutsch wiedergeben. Und der Geheimrat triefte von unflätigen Redensarten und Gebärden. Der Speichel tropfte ihm aus den Mundwinkeln, lief über die schleppende, hängende Unterlippe. Er genoss dieses Spiel, dieses koprolale Geschwätz, schlürfte wollüstig die Klänge schamloser Worte. Und dann, dicht bei einem besonders widerlichen Worte, warf er sein ›Durchlaucht‹ hinein, trank mit Entzücken den Kitzel dieses Gegensatzes.
Sie aber lauschte ihm, hochrot, aufgeregt, zitternd fast, sog mit allen Poren diese Bordellatmosphäre, die sich breit aufputzte in dem dünnen wissenschaftlichen Fähnchen –
»Befruchten Sie nur Äffinnen, Herr Geheimrat?« fragte sie atemlos.
»Nein,« sagte er, »auch Ratten und Meerschweinchen. Wollen Sie einmal zusehen, Durchlaucht, wenn ich – –« Er senkte seine Stimme, flüsterte beinahe.
Und sie rief: »Ja, ja! Das muss ich sehen! Gerne, sehr gerne! – – Wann denn?« – Und sie fügte hinzu, mit schlecht gemachter Würde: »Denn wissen Sie, Herr Geheimrat, nichts interessiert mich mehr als medizinische Studien. – Ich glaube, ich wäre ein sehr tüchtiger Arzt geworden.«
Er sah sie an, breit grinsend. »Zweifellos, Durchlaucht!« Und er dachte, dass sie gewiss noch eine viel bessere Bordellmutter geworden wäre. Aber er hatte sein Fischlein im Garn. Begann wieder von der Rosenzucht und den Kamelienhecken