Die Gontrambuben rasten durch die Büsche, spät am Nachmittage. Frieda, die älteste, sollte aufpassen; achtgeben, dass die Brüder artig seien. Aber sie dachte: sie sind artig. Und sie sass hinten, in der zerfallenen Hollunderlaube, mit ihrer Freundin, der kleinen Prinzessin Wolkonski. Die beiden schwatzten und stritten sich, meinten, dass sie nun bald vierzehn Jahre alt würden und dann wohl heiraten könnten. Oder wenigstens könnte man einen Liebhaber haben. Aber sie waren fromm alle beide und beschlossen, noch ein wenig zu warten, vierzehn Tage noch, bis nach der ersten heiligen Kommunion.
Dann bekam man lange Kleider. Dann war man erwachsen. Dann konnte man einen Liebhaber haben.
Sie kamen sich sehr tugendhaft vor bei diesem Entschluss. Und sie überlegten, dass es gut wäre, sogleich zur Kirche zu gehen, in die Maiandacht.
Man musste sich sammeln in diesen Tagen, musste ernst sein und vernünftig.
»Und dann ist auch vielleicht der Schmitz da!« sagte Frieda Gontram.
Aber die kleine Prinzess rümpfte das Näschen: »Bah – der Schmitz!« machte sie.
Frieda fasste sie unter den Arm. »Und die Bavaren, die mit den blauen Mützen!«
Olga Wolkonski lachte. »Die –? Das sind – – Blasen! – Weisst du, Frieda, feine Studenten gehen überhaupt nicht in die Kirche.«
Das war nun wohl wahr, feine Studenten taten so etwas nicht.
Frieda seufzte. Sie schob rasch den Wagen mit dem schreienden Wölfchen zur Seite und trat nach Cyklop, der sie in den Fuss beissen wollte.
Nein, nein, die Prinzess hatte recht, es war nichts mit der Kirche. »Lass uns hierbleiben!« entschied sie. Und die Mädchen kehrten zurück zur Hollunderlaube.
– Alle die Gontramkinder hatten eine unendliche Gier zum Leben. Sie wussten es nicht – aber sie ahnten es, fühlten es so im Blute, dass sie sterben mussten, jung, frisch, mitten im Blühen. Dass sie nur einen kleinen Teil der Spanne Zeit hatten, die andern Menschen gegeben war. Und sie nahmen diese Zeit dreifach, lärmten und rasten, frassen und tranken sich übersatt am Leben. Wölfchen schrie in seinem Wagen, schrie für sich allein so viel wie drei andere Babies. Seine Brüder aber flogen durch den Garten, machten sich zahlreich, taten, als ob ihrer vier Dutzend wären, und nicht nur vier. Schmutzig, rotznasig und zerlumpt, immer irgendwo blutend, vom Schnitt in den Finger, vom zerschundenen Knie, oder irgendeinem tüchtigen Kratz.
Wenn die Sonne sank, schwiegen die Gontrambuben. Kehrten ins Haus zurück, gingen in die Küche. Schlangen gewaltige Haufen von Butterbröten, dick belegt mit Schinken und Wurst. Und tranken ihr Wasser, das die grosse Magd leicht färbte mit rotem Wein. Dann wusch sie die Magd. Zog sie aus, steckte sie in die Kübel, nahm schwarze Seife und die harte Bürste. Schrubbte sie, wie ein Paar Stiefel. Aber rein wurden sie doch nicht. – Und wieder schrien und tobten die wilden Jungen in ihren hölzernen Kübeln.
Dann, todmüde, krochen sie ins Bett, plumpsten hin wie Kartoffelsäcke, rührten sich nicht mehr. Stets vergassen sie sich zuzudecken; das besorgte die Magd.
Meist um diese Stunde kam Rechtsanwalt Manasse ins Haus. Er stieg die Treppe hinauf, schlug mit dem Stock an ein paar Türen; bekam keine Antwort und trat endlich ein.
Frau Gontram kam ihm entgegen. Sie war gross, fast doppelt so gross wie Herr Manasse. Der war ein Zwerg nur, kugelrund, und glich genau seinem hässlichen Hund, dem Cyklop. Kurze Stoppeln wuchsen ihm überall aus Wangen, Kinn und Lippen, und mitten heraus schaute die Nase, klein und rund, wie ein Radieschen. Wenn er sprach, kläffte er, es war, als wollte er immer zuschnappen.
»Guten Abend Frau Gontram,« sagte er. »Ist der Herr Kollege noch nicht zu Haus?«
»Juten Nabend Herr Rechtsanwalt,« sagte die grosse Frau. »Machen Sie et sich bequem.«
Der kleine Manasse schrie: »Ob der Herr Kollege noch nicht zu Haus ist!? – Und lassen Sie das Kind hereinholen, man versteht ja sein eigen Wort nicht!«
»Wat?« fragte Frau Gontram. Dann nahm sie die Antiphone aus den Ohren. »Ach so!« fuhr sie fort. »Dat Wölfche! – Sie sollten sich doch auch so 'ne Dinger anschaffe, Herr Rechtsanwalt, dann höre Se nix.« Sie ging zur Tür und schrie: »Billa, Billa! – Oder Frieda! Hört ihr nit? Schafft dat Wölfche int Haus!«
Sie war noch im Morgenkleid, aprikosenfarbig. Sie hatte gewaltiges, kastanienbraunes Haar, unordentlich aufgesteckt, halb herunterfallend. Ihre schwarzen Augen schienen unendlich gross, weit, weit aufgerissen, und voll sengenden, unheimlichen Feuers. Aber die Stirne höhlte sich an den Schläfen, eingefallen war die schmale Nase und die bleichen Wangen spannten sich eng über die Knochen. Grosse hektische Flecken brannten hell auf –
»Haben Sie 'ne jute Zigarre, Herr Rechtsanwalt?« fragte sie.
Er nahm sein Etui heraus, ärgerlich, wütend fast. »Wie viele haben Sie denn schon geraucht heute, Frau Gontram?«
»'n Stücker zwanzig,« lachte sie. »Aber Sie wissen ja, dat dreckige Zeug für vier Pfennig et Stück! – 'ne Abwechslung würd' mir jut tun. Da, jeben Sie mich die dicke da!« – Und sie nahm eine schwere, fast schwarze Mexiko.
Herr Manasse seufzte: »Na, was meinen Sie? Wie lang soll das noch so gehn?«
»Böh!« machte sie. »Regen Se sich nur nich auf. Wie lang? Vorjestern meinte der Herr Sanitätsrat: noch sechs Monat. – Aber wissen Se, jenau datselbe hat er vor zwei Jahren auch schon emal jemeint. Ich denk immer: et jaloppiert sich jarnix, et jeht hübsch im Trab mit die jaloppierende Schwindsucht.«
»Wenn Sie wenigstens nicht so viel rauchen wollten!« kläffte der kleine Rechtsanwalt.
Sie sah ihn gross an, zog die blauen, dünnen Lippen hoch über die blanken Zähne. »Wat? Wat, Manasse? Nich mehr rauche? Nu halten Se aber freundlichst die Luft an! Wat soll ich denn sonst tun? Kinder kriegen – alle Jahr eins – Haushalt führen mit all die Bäljer – dabei de Jaloppierende – – un nich mal rauche dürfe?« – Sie paffte ihm den dicken Qualm ins Gesicht, dass er hustete.
Er blickte sie an, halb giftig, halb liebend und bewundernd. Dieser kleine Manasse war frech wie keiner, wenn er vor der Barre stand, nie verlegen um einen Witz, um ein scharfes, schneidendes Wort. Kläffte, schnappte, biss um sich, ohne jeden Respekt und jede kleinste Furcht. – Hier aber, vor dieser dürren Frau, deren Leib ein Gerippe war, deren Kopf grinste wie ein Totenschädel, die seit Jahr und Tag zu dreiviertel im Grabe stand, und lachend das letzte Viertel selbst aufschaufelte, hier empfand er Angst. Diese unbändigen, schimmernden Locken, die immer noch wuchsen, immer stärker, immer voller wurden, als ob ihren Boden der Tod selbst düngte, diese ebenmässigen, strahlenden Zähne, die den schwarzen Stumpf der dicken Zigarre fest umschlossen, diese Augen, übergross, ohne Hoffnung, ohne Sehnsucht, fast ohne ein Bewusstsein ihrer leuchtenden Gluten – – – liessen ihn stumm werden und kleiner noch als er war, kleiner fast als sein Hund.
Oh, er war sehr gebildet, der Rechtsanwalt Manasse. Sie nannten ihn ein wanderndes Konversationslexikon, und es gab nichts, über das er nicht Bescheid wusste im Augenblick. Nun dachte er: sie schwört auf Epikur. Der Tod geht sie nichts an, meint sie. Solange sie lebt, ist er nicht da. Und wenn er da ist, so ist sie fort.
Er aber, Manasse, sah recht gut, dass der Tod da war, obwohl sie noch lebte. Längst war er da, schlich überall herum in diesem Hause. Spielte Blindekuh mit dieser Frau, die sein Mal trug, liess ihre gezeichneten Kinder schreien und rasen im Garten. Freilich – er galoppierte nicht. Ging hübsch im Trab, da hatte sie recht. Aber nur – – so aus Laune. Nur so – – weil es ihm Spass machte, zu spielen mit dieser Frau und ihren lebensgierigen Kindern wie die Katze mit den Fischlein im Goldfischglas –
Ohe, er ist gar nicht da! meinte diese Frau Gontram, die auf dem Longchair lag den langen Tag, die grosse schwarze Zigarren rauchte, nie endende Romane las und Antiphone in den Ohren trug, um der Kinder Lärm nicht zu hören. – Ohe, er ist gar nicht da!? – Nicht da? grinste der Tod und lachte den Rechtsanwalt an aus dieser jämmerlichen Maske heraus, paffte ihm den dicken