Frau Gontram lachte. »Ach, Manasse, dat ist noch von letzte Weihnachte her, als er den Jungens die schlechten Zeugnisse unterschreiben musste! – – Uebrigens, wat zankt ihr euch? Lasst doch die Frieda schreiben.«
Und sie schrie durch das Fenster hin nach Frieda.
Frieda kam und mit ihr kam Olga Wolkonski.
»Das ist nett, dass du auch da bist!« begrüsste sie der Justizrat. »Habt ihr schon zu Abend gegessen?«
Doch die Mädchen hatten gegessen, unten in der Küche.
»Setz dich her, Frieda,« gebot der Vater, »hierher.« Frieda gehorchte. »So! Nun nimm die Feder und schreib, was ich dir sage.«
Aber die Frieda war ein echtes Gontramkind, sie hasste das Schreiben. Im Nu war sie aufgesprungen vom Stuhl. »Nee, nee!« schrie sie. »Olga soll schreiben, die kann das viel besser als ich.«
Die Prinzess stand am Sofa; sie wollte auch nicht. Aber ihre Freundin hatte ein Mittel, sie gefügig zu machen. »Wenn du nicht schreibst,« flüsterte sie, »leih ich dir keine Sünden für übermorgen!«
Das half. Uebermorgen war Beichttag, und ihr Beichtzettel sah noch sehr dürftig aus. Sündigen durfte man nicht in dieser ernsten Kommunionzeit, aber Sünden beichten musste man doch. Musste sich streng erforschen, nachdenken und suchen, ob man nicht irgendwo noch eine Sünde finde. Und das verstand die Prinzess ganz und gar nicht. Frieda aber konnte es prächtig. Ihr Beichtzettel war der Neid der ganzen Klasse, besonders Gedankensünden erfand sie grossartig, gleich dutzendweise auf einmal. Sie hatte das vom Papa: sie konnte mit ganzen Haufen von Sünden aufwarten, nur wenn sie einmal wirklich eine beging, so erfuhr der Beichtvater gewiss nichts davon.
»Schreib, Olga,« flüsterte sie, »dann leih ich dir acht dicke Sünden.«
»Zehn,« forderte die Prinzessin. Und Frieda Gontram nickte; es kam ihr gar nicht darauf an, sie hätte zwanzig Sünden gegeben, um nicht schreiben zu müssen.
Olga Wolkonski setzte sich an den Tisch, nahm die Feder und sah fragend auf.
»Also schreib!« sagte der Justizrat. »Verehrte Frau Fürstin – –«
»Ist das für die Mama?« fragte die Prinzess.
»Natürlich, für wen denn sonst? Schreib! – Verehrte Frau Fürstin –«
Die Prinzess schrieb nicht. »Wenn es für die Mama ist, kann ich doch auch schreiben: Liebe Mama!«
Der Justizrat wurde ungeduldig. »Schreib, was du willst, Kind, nur schreib.«
Und sie schrieb: »Liebe Mama!«
Und dann weiter nach dem Diktat des Justizrats:
»Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unsere Angelegenheit nicht recht weiterkommt. Ich muss soviel nachdenken und man kann nicht nachdenken, wenn man nichts zu trinken hat. Wir haben aber keinen Tropfen Sekt mehr im Hause. Schicken Sie uns also gefälligst, im Interesse Ihres Prozesses, einen Korb Bowlensekt, einen Korb Pommery und sechs Flaschen – –«
»St. Marceaux!« rief der kleine Rechtsanwalt.
»St. Marceaux –« fuhr der Justizrat fort. »Das ist nämlich die Lieblingsmarke von Collega Manasse, der auch manchmal hilft.
Mit besten Grüssen
Ihr –«
– »Nun sehen Sie, Collega,« sagte er, »wie bitter unrecht ihr mir tut! Nicht allein diktier ich den Brief, ich unterschreib ihn auch noch eigenhändig!« Und er setzte seinen Namen hin.
Frieda wandte sich halb um vom Fenster. »Seid ihr fertig? Ja? Na, dann will ich euch nur sagen, dass es ganz unnötig war. Eben ist Olgas Mama vorgefahren und kommt nun gerade durch den Garten.« – Sie hatte die Fürstin längst gesehen, hatte aber hübsch still geschwiegen und nicht unterbrochen. Wenn die Olga schon zehn schöne Sünden bekam, so sollte sie doch auch etwas arbeiten dafür! So waren alle die Gontrams, Vater, Mutter und Kinder: sie arbeiteten sehr, sehr ungern, aber sie sahen recht gerne zu, wenn das andere taten.
Die Fürstin trat ein, dick und aufgeschwemmt, grosse Brillanten an den Fingern und den Ohren, am Halse und im Haar, masslos ordinär. Sie war eine ungarländische Gräfin oder Baronin; irgendwo im Orient hatte sie den Fürsten kennen gelernt. Eine Heirat war zustande gekommen, das war sicher; aber sicher war auch, dass gleich von Anfang an von beiden Seiten geschwindelt wurde. Sie wollte diese Ehe, die aus irgendwelchen Gründen von vornherein unmöglich war, dennoch gesetzlich durchsetzen, und der Fürst wollte dieselbe Ehe, die er wohl für möglich hielt, durch kleine Formfehler gleich beim Abschluss zu einer ungültigen machen. Ein Netz von Lügen und frechem Schwindel: ein wahres Fressen für Herrn Sebastian Gontram. Alles wankte hier, nichts stand fest, jede kleinste Behauptung wurde prompt von der Gegenseite widerlegt, jeder Schatten eines festen Gesetzes wurde durch das eines andern Staates wieder ausgelöscht. Nur eins blieb: die kleine Prinzess – – sowohl Fürst wie Fürstin bekannten sich als Vater und Mutter und beanspruchten Olga für sich: dieses Produkt ihrer seltsamen Ehe, dem so viele Millionen zufallen mussten. Die Mutter war im Vorteil zur Zeit, war im Recht der Besitzenden –
»Setzen Sie sich, Frau Fürstin!« Der Justizrat hätte sich eher die Zunge abgebissen, als diese Frau ›Durchlaucht‹ anzureden; sie war seine Klientin und er behandelte sie nicht um ein Haar besser, wie die letzte Bauernfrau. »Legen Sie doch ab!« Aber er half ihr nicht.
»Wir haben gerade an Sie geschrieben,« fuhr er fort. Und er las ihr den schönen Brief vor.
»Aber bitte sehr!« rief die Fürstin Wolkonski. »Aber gewiss doch! Wird morgen in der Früh besorgt!« Sie öffnete ihre Tasche und zog einen schweren Brief heraus. »Sehen Sie, verehrter Herr Justizrat, gerade wegen unserer Sache kam ich. Da ist ein Schreiben vom Obergespan Grafen Ormos aus Gross-Becskerekgyartelep, wissen Sie – –«
Herr Gontram runzelte die Stirne: das fehlte noch! Selbst der König hätte ihm keine Arbeit zumuten dürfen, wenn er abends zu Hause war. Er stand auf, nahm den Brief. »Ist schon gut,« sagte er, »schon gut, das erledigen wir alles morgen im Bureau.«
Sie wehrte sich. »Aber es ist sehr eilig. Ist sehr wichtig – –«
Der Justizrat unterbrach sie. »Eilig? Wichtig? Nun sagen Sie mir bloss, was verstehen Sie davon, ob etwas eilig oder wichtig ist? Gar nichts! Nur im Bureau kann man das beurteilen.« Dann, im Tone wohlwollenden Vorwurfs: »Frau Fürstin, Sie sind doch eine gebildete Frau! Sie haben doch auch so eine Art von Erziehung genossen!? – Da müssen Sie doch wissen, dass man Leute nicht des Abends zu Hause mit Geschäften belästigt.«
Sie beharrte noch immer. »Aber im Bureau kann ich Sie ja doch nie erwischen, verehrter Herr Justizrat. Ich war in dieser Woche allein viermal –«
Nun wurde er fast ärgerlich. »Kommen Sie nächste Woche! Meinen Sie denn, dass man nur Ihren Kram allein hätte? Was glauben Sie wohl, was man sonst noch alles zu tun hat? Was mich allein der Mörder Houten für eine Zeit kostet? Und da handelt es sich um den Kopf und nicht nur um eine Handvoll Milliönchen.« Und er begann, schnurrte ab, unaufhörlich, erzählte eine ewige Geschichte von diesem merkwürdigen Räuberhauptmann, der nur in seiner Phantasie lebte, und von den juristischen Heldentaten, die er für diesen unvergleichlichen Lustmörder vollbrachte.
Die Fürstin seufzte, aber sie hörte zu. Lachte auch manchmal, immer am falschen Platze. Sie war die einzige von all seinen vielen Zuhörern, die nie fühlte, wie er log, und sie war auch die einzige, die seinen Witz nicht verstand.
»Nette Geschichten für die Kinder!« kläffte Rechtsanwalt Manasse. Die beiden Mädchen hörten gierig zu, starrten den Justizrat an mit weit offenen Augen und Mündern.
Aber der liess sich nicht unterbrechen. »Ach was, an so was kann man sich nicht früh genug gewöhnen.« Er tat so, als wenn Lustmörder das Allergewöhnlichste seien, was es gäbe im Leben, als ob man ihnen jeden Tag dutzendweise begegne.
Endlich war er zu Ende, sah nach der Uhr. »Zehn schon! Die Kinder