„Ehrlich gesagt, so ganz immer noch nicht. Die Leute lesen halt einfach, was sie wollen und was sie interessiert. Und es interessiert sie halt, mit wem die…“
„Bitte sprich‘ den Namen nicht aus!“
„…so alles in der Kiste war…“
„Widerlich! Allerunterste Kategorie!“
„Sollen ja auch einige Prominente dabei gewesen sein. Zum Beispiel dieser eine Fernseh-Moderator… Dieser große, blonde…“
„Na und?“
„Mein ja bloß.“
„Der kackt auch bloß braun!“
„Schon klar. Aber er is‘ halt prominent.“
„Du hast das Buch gelesen!“
„Nein, hab‘ ich nicht! Ich hab‘ bloß einen Bericht darüber gesehen, auf RTL. Gelesen hab‘ ich‘s nich‘. “
„Ehrlich?“
„Großes Indianer-Ehrenwort!“
Vivien hebt die Hand feierlich zum Schwur.
Limbach ist erleichtert. Zunächst. Aber schon im nächsten Moment sieht er sie unsicher an.
„Aber du wirst es lesen.“
Vivien verdreht amüsiert die Augen.
„Kann schon sein. Wenn du so weitermachst, werd‘ ich noch richtig neugierig.“
„Ich wusste es!“
„Wenn es so viele Leute lesen, muss doch was dran sein, oder nicht?“
Vivien grinst sadistisch. Sie will Limbach auf den Arm nehmen. Seine Antennen versagen ein weiteres Mal. Eine ganze Weile sitzt er schweigend da. Der Satz hat ihn getroffen. Den Schalk in Viviens Blick hat er übersehen. Hätte er ihn bemerkt, wäre er insgesamt in besserer Verfassung gewesen, hätte er womöglich cool gekontert und etwas in der Art von „Esst Scheiße, Millionen Fliegen können sich nicht irren“, oder so gesagt.
So sagt er bloß: „Meine Autorenseele ist zutiefst verletzt.“
Vivien sieht Limbach mit gespieltem Mitleid tief in die Augen und legt ihre Hand auf seine.
„Poor, poor boy.“
* * *
„Wie jetzt, auswandern?“
„Ja, ich werde auswandern.“
„Wohin?“
„Keine Ahnung. Norwegen vielleicht. Oder Island. Aber eigentlich egal wohin. Bloß weg aus diesem Land.“
„Aber warum denn um Himmels Willen? Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Man legt hier keinen Wert mehr auf meine Anwesenheit. Ich werde hier nicht mehr gebraucht.“
„Wie kommst du denn darauf? Red‘ dir doch nicht so was ein!“
„Das red‘ ich mir nicht ein. Das sind alles Tatsachen. Nackte Tatsachen, sozusagen. Das ist hier das Land der Viva-Moderatorinnen und Pornodarstellerinnen…“
„Was…?
„… der Köche, Friseure und Fußballer …“
„Stefan, jetzt übertreibst du aber…“
„… und der Schauspieler natürlich.“
„Ich versteh‘ ja was du meinst, aber…“
„… durch und durch verlanzt und durchjaucht…“
Krisengespräch bei Limbachs Verleger Peter-Heinrich Wagner. Limbach hat ihn direkt nach seinem späten Frühstück bei Vivien aufgesucht. Wagner, Mitte sechzig, ist eigentlich Lehrer von Beruf. Wegen des Radikalenerlasses von 1972 hat er ihn aber nie ausüben dürfen, da er damals Mitglied einer kommunistischen Partei war. Nach den üblichen Umwegen – Journalist, Lektor – hat er sich in den Achtzigern mit einem kleinen, alternativen Verlag im Hamburger Schanzenviertel selbständig gemacht. Jahrelang, um nicht zu sagen jahrzehntelang, hielt sich der Kleinstverlag mehr schlecht als recht mühsam gerade so über Wasser, ständig von einer Pleite nach der anderen bedroht. Wer las schon Maos Memoiren, Gaddafis Gedichte und Pol Pots Poesie? Und auch die Nachfrage nach der so und so vielten Lebensbeichte des des x-ten Ex-RAFlers blieb überschaubar.
Dann, vor zwei Jahren, die grandiose Idee mit der eigenen Krimi-Reihe, durchgesetzt gegen den Widerstand der langjährigen Weggefährten im Verlag („bürgerlich-dekadente Scheiße“), in der auch Limbachs Erstling versehentlich veröffentlicht wurde. Mit durchschlagendem Erfolg. Gigantische Verkaufszahlen. Preise und Anerkennung noch und nöcher. Aber vor allem: Durch den unerwarteten Bestseller wurde der kleine, linke Verlag in ungeahnte Höhen katapultiert und schwimmt seitdem in Geld. Und der Verleger, der Limbach vorher weitgehend ignoriert hatte, hat ihn plötzlich richtig lieb.
Mit Wagner und seinen Kumpels übern Kiez und die Nächte durch Limbach ist dabei. Wilde Wochenenden auf Sylt und danach noch Schampus an der Alster: Limbach auch. St. Tropez und St. Moritz, dazwischen Seychellen: Natürlich mit Limbach.
Inzwischen sind der Autor und der Verleger enge Freunde.
„Okay, irgendwo hast du ja recht, im Grunde“, meint Wagner, „aber das ist doch alles nichts Neues. Der Untergang des Abendlandes droht doch schon seit Jahren. Warum regst du dich gerade jetzt so darüber auf?“
Limbach erzählt seinem Verleger von dem unglaublichen Skandal auf der Bestsellerliste und von den unerträglichen Zumutungen, denen er dadurch ausgesetzt ist. Dabei gefällt er sich zusehends in der Rolle des sensiblen, leidenden Autors, der an der Schlechtigkeit der Welt verzweifelt und verwendet zum zweiten Mal seine neueste Lieblingsformulierung: „Meine Autorenseele ist zutiefst verletzt.“
Peter-Heinrich Wagner, von Freunden „Pehe“ genannt, sichtlich bemüht, sein bei weitem wertvollstes Pferd im Stall (engsten Vertrauten gegenüber spricht er in Bezug auf Limbach auch schon mal von „Dukaten-Esel“) zu besänftigen, tut alles, Limbachs Stimmung zu verbessern. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er ihn verlieren würde. Nicht weniger als der Rückfall in alte Hungerleider-Zeiten nämlich.
Der Verleger betätigt die Tastatur des Rechners auf seinem Schreibtisch und wirft einen Blick auf den Bildschirm.
„Stefan, ich darf dir mal eben die neuesten Verkaufszahlen nennen: Es sind jetzt knapp über eine Million Exemplare weg. Allein in Deutschland. Der Lizenzverkauf ins Ausland ist gerade erst angelaufen. Dabei geht es um enorme Summen. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass niemand mehr etwas von dir wissen will. Ganz im Gegenteil: Das geht jetzt erst richtig los, wirst sehen. Die Nachfrage ist riesig.“
„Nicht so riesig wie die Nachfrage nach dem Machwerk von dieser, dieser…“
„Du darfst aber nicht vergessen, dass dein Buch schon bald zwei Jahre auf dem Markt ist. Und jetzt wird halt gerade mal wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben.“
„Sau trifft es übrigens sehr gut…“
„That‘s business, so funktioniert das System, das ist Kapitalismus. Gibt den Leuten was sie haben wollen, und du hast Erfolg. Im Prinzip ganz einfach.“
„Das sagt ein Drogendealer auch.“
„Aber so isses.“
„Da könnte man ja glatt Kommunist werden.“
Wagner stutzt. In der Tat hatten linke Parteien im Zuge der Finanzkrise erheblichen Zulauf bekommen. Aber Derartiges aus dem Mund eines Bestsellerautors und frischgebackenen Millionärs zu hören war seltsam.
„Das ist jetzt nicht wirklich dein Ernst. Du bist verärgert. Vielleicht auch verbittert. Wir leben nun mal in diesem System und müssen uns mit ihm arrangieren.“
„Schweine-System!“
Wagner