„Kruzifix, Charlie!“ Spunk schüttelte mit dem Kopf. „Ihr habt eine Taverne zu Hause! Wie kann man da nicht von Neckbone gehört haben?“
„Aye! Mit bloßen Händen hat er mal einem Mann die Wirbelsäule rausgerissen!“ setzte Abraham hinzu.
„Wirklich?“
„Aye! Lass also besser die Finger von der Kleinen, mein Junge!“
„Und ihr seid sicher, dass sie die Tochter von diesem Piraten ist?“
„Ja, Mann!“ nickte Jerome. „Die Tätowierung, Mann!“
„Kein Zweifel!“ sagte Spunk.
„Man sagt auch“, begann Abraham in einem bedeutungsvollen Flüsterton, „man sagt ... Neckbone habe sie in einem heidnischen Ritual mit einer Voodoo-Priesterin gezeugt! Ein Kind des Teufels!“
„Ja, Mann! Böses Omen, Mann!“
Charlie Plumpton wusste nicht recht, was er von alledem halten sollte. „Wenn sie tatsächlich die Tochter von diesem Neckbone ist ... wollt ihr damit sagen, der Käpt’n steht mit Piraten im Bunde?“
Abraham lächelte ein schiefes, zahnloses Lächeln. Dann legte er Charlie den Arm um die Schultern.
„Lass mich so sagen, mein Junge“, sprach er leise weiter. „Viele Jahre fahre ich jetzt schon mit dem alten Boles zur See. Noch nie sind wird dabei von Piraten...“
„Still!“ zischte Spunk plötzlich.
„Nichts zu tun, Gentlemen?“ erklang daraufhin die Stimme des Kapitäns, der gerade an Deck seine Runde drehte.
Die Männer schwiegen.
„Kommt schon, ihr alten Waschweiber!“ knurrte er schließlich. „Haltet Mr. Plumpton nicht von der Arbeit ab!“
Wortlos verzogen sich die Männer.
Einen Moment lang fixierte der Kapitän Charlie mit einem scharfen Blick. Dann wandte er sich um und setzte seine Runde fort.
Charles Philip Plumpton richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Boot. Er löste einige der Halteseile und schob es ein wenig von der Backbordreling fort, an der es festgezurrt war, um es besser inspizieren zu können. Der Bug war fast völlig zerstört, ein einziges, großes Loch. Zahlreiche Risse in den Planken zogen sich weit in den Bootskörper hinein. Viele davon mussten ausgewechselt werden. Schnell war klar geworden, dass man die Reparatur nicht auf See durchführen konnte. Daher hatte man es lediglich an Deck festgemacht und sich für den Rest der Fahrt mit den beiden übrigen Booten begnügt. In Gedanken erstellte Charlie eine Liste der Arbeiten, die nötig sein würden, um es für die nächste Saison wieder seetüchtig zu machen. Dies würde seine erste Aufgabe nach ihrer Heimkehr sein.
Schritte auf dem Vordeck ließen ihn aufblicken. Es war die junge Frau. Ohne ihn anzusehen, ging sie auf den Bugspriet zu. An der Reling blieb sie stehen und starrte auf den Horizont. Ihr weites Hemd flatterte im Wind, ebenso die Strähnen ihres langen, leicht gelockten, rabenschwarzen Haars.
Wie gebannt ruhten Charlies Augen auf ihr. Sie war kleiner als er, etwa 1,65. Sie entbehrte der vornehmen Blässe und Zerbrechlichkeit, die man von den höheren Töchtern der feineren Gesellschaft kannte. Sie war braungebrannt, kräftig, aber nicht von der plumpen Robustheit der Marktweiber, Mägde und Bauersfrauen. Sie war sehnig, athletisch, von einer ganz eigenen Eleganz.
„Es ... ähm ... es geht ein guter Wind...“ Charlie erschrak fast vor dem Klang seiner eigenen Stimme, als er es wagte, sie anzusprechen. „...wenn es ... ähm ... so bleibt, werden wir vor Sonnenuntergang in St. George’s sein.“
Die junge Frau drehte sich zu ihm um.
„Was haben Sie gesagt?“
„Ich ... ähm ... habe gesagt ... wenn der Wind so bleibt, werden wir vor Sonnenuntergang...“
„Oh ... ja.“
Charlie hatte keine Ahnung, was er als nächstes sagen sollte.
Er sah sie einfach nur an.
Er mochte ihr Gesicht. Ihre Nase, ihre Lippen.
Sie hatte grüne Augen.
„Hallo?“ riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Ist sonst noch was?“
Er mochte ihre Stimme.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.
„Nun?“
Charlie wurde rot. „Ich ... ähm ... verzeihen Sie, Miss Willis...“
„Nennen Sie mich nicht so!“ fuhr sie ihn daraufhin an.
Der Ausbruch kam unerwartet.
„Verzeihung“, stammelte Charlie. „Ich dachte, das wäre Ihr Name...“
„Mein Name ist Prendegast“, erwiderte die junge Frau sachlich. „Der Name meiner Mutter.“
„Ah...“
Ebenso unerwartet begann sie auf einmal zu lachen. „Lassen Sie mich raten, Ihre verlausten Kameraden haben Ihnen ein paar ihrer tollen Geschichten erzählt...“
Charlie starrte auf die Schiffsplanken.
„...dass meine Mutter eine Voodoo-Hexe war...“
„So ähnlich...“
„...dass ich Sie mit dem Bösen Blick verzaubern könnte...“
Charlie Plumpton schwieg.
„...dass Ihnen mein Vater mit bloßen Händen das Rückrad rausreißt, sollten Sie mich auch nur falsch ansehen...“
„Tut mir wirklich leid, Miss ... ähm ... Prendegast.“
„Emma.“
„Emma“, wiederholte er verträumt.
Wieder wusste Charlie nicht, was er sagen sollte.
Sie musste ihn für einen Vollidioten halten.
„Nun ... um Sie zu beruhigen“, hatte sie schließlich ein Einsehen mit ihm. „Meine Mutter war keine Voodoo-Hexe, ich beherrsche nicht den Bösen Blick und mein Vater...“ Sie geriet kurz ins Stocken. „...nun ja ... man kann sich seine Eltern nicht aussuchen.“
„Warum nennt man ihn ‚Neckbone’?“ wollte Charlie wissen.
„Tja...“ Emma zuckte die Achseln. „Klingt wahrscheinlich besser als ... Hubert Perceval.“
„Das ist sein Name?“
„Ja ... das ist sein Name. Hubert Perceval Willis ... Schrecken der Karibik!“
„Oh ... mein Name ist übrigens Charlie ... Charlie Plumpton.“
„Plum, eh?“ Lässig, mit den Händen an den Hüften, baute sich Emma vor ihm auf. Es schien sie zu amüsieren, wie er dastand und um Worte rang.
„Was ist das?“ brachte er schließlich hervor und deutete auf die Tätowierung an ihrer Hand. „Eine Möwe?“
„Ein Albatros.“
„Was hat es damit auf sich?“
Emmas Gesichtszüge verhärteten sich.
„Das ist persönlich“, sagte sie nur.
„Segel voraus!“ rief der Ausguck im Masttopp.
Es musste etwa zur Mittagsstunde sein. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ihre Reflektionen auf den Wellen blendeten die Augen.
Käpt’n Boles griff nach seinem Fernrohr und ging zum Bug.
Einige Männer folgten ihm.
„Es ist eins von uns ... so weit, so gut“, ließ er schließlich verlauten. „Britisches Linienschiff