Kurz: das Geld war, wo der Pottwal war. Und so folgten ihm die kommerziellen Waljäger in Fanggründe bis vor die Westküste Südamerikas in den südlichen Pazifik. Nicht selten dauerten deren Fahrten drei Jahre und länger, und man kehrte nicht eher heim, bis die Laderäume der Schiffe zum Bersten gefüllt waren.
Die Mannschaft der ‚Eleanore’ verfolgte indessen bescheidenere Ziele. Für sie war der Walfang eine Saisonarbeit, ein Nebenerwerb. Einen Großteil des Jahres verbrachten die Männer zu Hause bei ihren Familien und gingen anderen Tätigkeiten nach. So auch der junge Charles Philip Plumpton, der in wenigen Tagen seinen einundzwanzigsten Geburtstag feiern würde. Von seinem Vater hatte er das Tischlerhandwerk gelernt. Im letzten Jahr hatte man ihn dann erstmals als Schiffszimmermann für eine Fangfahrt angeheuert.
Nie würde er den Augenblick vergessen, als zum ersten Mal die Boote zu Wasser gelassen wurden. Denn wie beim Walfang üblich wurden während der Jagd nur ein oder zwei Mann als Schiffswache an Bord zurückgelassen. Der Rest der Mannschaft, darunter auch der Schiffskoch und eben der Schiffszimmermann, hatten sich in den Fangbooten in die Riemen zu legen.
Welch ein Abenteuer! Die gespannte Erregung, während man sich dem Koloss langsam näherte. Das präzise Manövrieren, um die Harpuniere in gute Position zu bringen, ohne dabei von der Schwanzflosse des Riesen zermalmt zu werden. Der Augenblick, wenn diese ihre Harpunen in den mächtigen Leib rammen. Ein Ruck geht durchs Boot, sobald der Wal anzieht und zu entkommen versucht. Gischt und Wind im Gesicht. Der Geschmack von Salzwasser auf den Lippen. Der rasende Herzschlag. Der Moment, in dem der Bootsführer dem erschöpften Tier mit einer langen Lanze den Todesstoß versetzt, gefolgt von der blutroten Blasfontäne, die das letzte Keuchen des Giganten signalisiert. Dann die Stille. Das Hochgefühl, die mächtigste Kreatur auf Gottes Erden bezwungen zu haben. Der Triumph, den massigen Körper schließlich längsseits zum Schiff zu bringen.
Es war wie eine Droge. Hatte man erst einmal davon gekostet, konnte man nicht wieder davon lassen.
Es überspielte auch die eher unappetitlichen Aspekte des Walfangs: das Abspecken des Kadavers und das Auslösen des Fischbeins.
Fischbein sind die Barten der Wale, die bei den meisten der großen Arten die Zähne ersetzen. Lange, außen glatte und innen mit fransenartigen Borsten besetzte Hornplatten, die ähnlich einem Kamm leicht überlappend am Oberkiefer des Tieres aufgereiht sind und dazu dienen, Plankton, Krill und sonstige Nahrung aus dem Meerwasser zu filtern. Fischbein ist leicht, nahezu unzerbrechlich, dauerhaft elastisch und relativ einfach zu verarbeiten. Die faserige Struktur erlaubt es, feinste, biegsame Streifen herauszuschneiden, die dann als Korsettstäbe, Schirmrippen, Fächerstäbe oder andere Modeartikel Verwendung fanden.
Es war kein Walrat, geschweige denn Ambra — aber es würde trotzdem einen anständigen Preis bringen.
Aufgrund seiner Position als Schiffszimmermann blieb Charles Philip Plumpton das blutige Geschäft des Abspeckens erspart. Seine vordringlichste Aufgabe nach Vollendung einer Jagd bestand darin, Boote und Riemen auf Schäden zu untersuchen und diese gegebenenfalls zu beheben. Das Auslösen und Reinigen des Fischbeins von Haut- und Speckresten überließ man Spezialisten, die es sofort fachgerecht zu lagerfähigen Rohlingen verarbeiteten.
Was niemand erspart blieb, war der Gestank beim Trankochen. Die Speckschicht macht gut die Hälfte des Körpergewichts eines großen Wales aus. Bei einem 50-60 Tonnen schweren Tier fallen demnach rund 30 Tonnen Speck an, die zu Tran verkocht werden wollen. Als wäre der Geruch des frischen Walöls nicht allein schon unangenehm genug, befeuerte man schließlich auch die Tranöfen selbst mit den Überresten des Kochprozesses (Brennholz war auf hoher See ein rares Gut!), Grieben von verkrustetem, ausgemergeltem Walspeck, die das Schiff mit einem beißenden, stark rußenden Rauch überzogen, der die Augen tränen und das Husten zu einem ständigen Begleiter werden ließ.
Tage vergingen, bis endlich der letzte Kessel Öl erkaltet, in Fässer gefüllt und verladen, das Deck von der schmierigen Schicht aus Blut, Fett und Ruß befreit war.
Für die Mannschaft der ‚Eleanore’ gehörte dies vorerst der Vergangenheit an. Wochen war es her, seit sie den letzten Wal ihrer diesjährigen Reise verarbeitet hatten. Die Decks glänzten, als sei das Schiff gerade erst vom Stapel gelaufen. Zufriedenheit machte sich breit, Zufriedenheit mit dem Ertrag der Reise, aber vor allen Dingen darüber, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt, geschweige denn getötet wurde. Eins der Boote hatte beträchtlichen Schaden erlitten, als es vom Schwanz des Grönländers erwischt wurde. Zum Glück kamen jedoch alle Insassen mit dem Schreck und ein paar Schrammen davon.
Am Abend würden sie daheim bei ihren Familien sein. Und im nächsten Jahr — so waren sie sich einig — würden sie erneut auf große Fahrt gehen.
Zuletzt hatten sie zwei Tage im Hafen von Kingstown auf der Insel St. Vincent gelegen. Ein Drittel ihrer Ladung konnten sie dort bereits veräußern. Vor einiger Zeit war der Markt für Fischbein vorübergehend eingebrochen, als das Damenkorsett, damals das wichtigste Produkt, für das die flexiblen Stangen in Massen eingekauft wurden, plötzlich aus der Mode kam. Aber mittlerweile hatte sich die Lage entspannt. Nun waren es die Männer, die das Korsett für sich entdeckt hatten! Die feinen Herren und Salonlöwen aus London und Paris verspürten auf einmal das Bedürfnis, ihre Schmerbäuche vor der (Damen-)Welt zu verbergen. Die eitlen Gecken der hohen Militärs taten es ihnen gleich. Selbst in den fernen Kolonien wollten sie nicht auf ein schlankes, mondänes Erscheinungsbild verzichten. Manufakteure, die sich auf den Inseln niedergelassen hatten, kauften daher wieder verstärkt Fischbein, um der steigenden Nachfrage nach Herrenkorsetts nachzukommen. Sie zahlten gut, konnten ihre Ware dennoch preisgünstig feilbieten, da sie den kostspieligen Import der fertigen Produkte aus England oder Frankreich umgingen. Die karibische Sonne trug das Ihre dazu bei, dass der Bedarf an Sonnenschirmen für die Töchter und Gemahlinnen der Kolonialoffiziere niemals schwand. Im Vergleich zum Vorjahr war der Preis für Fischbein sogar noch gestiegen. Der Kurs für Waltran blieb stabil. Günstiges Lampenöl und Schmiermittel wurden immer gebraucht. Teure Walratöle und –kerzen konnten sich die einfachen Leute ohnehin nicht leisten.
Aber nicht die guten Geschäfte, Spekulationen über die Höhe des eigenen Anteils oder die Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Lieben daheim waren das vorherrschende Thema der Seeleute, als die ‚Eleanore’ an diesem Morgen in Kingstown den Anker lichtete.
Es war eine junge Frau.
Sie war etwa Mitte Zwanzig. Kurz vor dem Auslaufen war sie in Begleitung des Kapitäns an Bord gekommen. Sie trug Männerkleidung! Hosen und Stiefel! Ihren rechten Handrücken zierte die Tätowierung eines merkwürdigen Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Seit man vor gut zwei Stunden in See gestochen war, hatte sie die Kajüte des Käpt’ns nicht verlassen.
„Ich sage euch ... das ist die Tochter von Neckbone!“
„Bist du sicher?“
„Aye!“
„Neckbone?“
„Aye!“
„Habt ihr die Tätowierung gesehen?“
„Wer ist Neckbone?“
Die drei Männer starrten Charlie Plumpton fassungslos an.
Sie standen auf dem Vorschiff der ‚Eleanore’. Da es kaum noch etwas zu tun gab, wollte er noch einmal das beschädigte Fangboot in Augenschein nehmen, das man dort festgezurrt hatte.
„Teufel auch, Charlie!“ schnaubte einer der Harpuniere, den alle bloß Spunk nannten. „Wo lebst du eigentlich?“