Von Plymouth aus verfolgte man die Route, die seinerzeit die ‚Lady Prentiss’ genommen hatte: Zuerst nach Funchal auf der Insel Madeira, von dort aus quer über den Atlantik nach Rio de Janeiro, um ein letztes Mal die Vorräte aufzustocken. Dann der lange Weg an Feuerland vorbei, um das Kap Hoorn in den Südpazifik. Nach einem kurzen Zwischenstopp auf Tahiti drang man schließlich in die Gruppe der Gesellschaftsinseln vor.
Eine lange Fahrt fand endlich ihr Ende.
„Bleiben Sie beim Boot!“ wies Diamond die Matrosen an, die ihn und seine zwei Begleiter von der ‚Discovery’ übergesetzt hatten.
Nur noch Weniges erinnerte daran, dass hier vor nicht allzu langer Zeit eine Siedlung gestanden hatte. Eine schwarze Zunge erkalteter, erstarrter Lava erstreckte sich von den Hängen des Berges bis zum Meer; ringsum die breite Schneise, die der pyroklastische Sturm der fatalen Eruption geschlagen hatte.
Verbrannte Erde.
Langsam schritten die drei Männer über das Feld der Verwüstung. Hier und da konnte man noch die Grundrisse einiger Hütten und Blockhäuser erkennen. Die verkohlten Stümpfe der Baumstämme, die als Stützpfeiler der Hauswände dienten, steckten noch im Boden. Reste von Möbelstücken, Metallgegenstände lagen verstreut. An einer Stelle fand man einen umgestürzten gusseisernen Ofen.
Zartes Grün spross aus dem geschwärzten Grund. Die Natur hatte bereits damit begonnen, diesen Ort wieder für sich zu beanspruchen.
In einem Gebüsch am Rande der Schneise regte sich etwas.
„Mr. Ruby!“ reagierte Diamond sofort.
Mit einer Schnelligkeit und Behändigkeit, die man einem solch bulligen Kerl kaum zugetraut hätte, eilte Ruby dem Ursprung des Geräusches entgegen.
Blätter raschelten, Zweige knackten.
Etwas oder jemand schien die Flucht zu ergreifen.
„Ah!“ ertönte plötzlich der Aufschrei einer menschlichen Stimme.
Augenblicke später schleifte Ruby eine verwahrloste Gestalt aus dem Unterholz.
„Lass los, du Klotz!“ wetterte ein gebeuteltes, strampelndes Männlein.
Es war Chestwick, der Schankwirt des Dorfes. Der kleine, selbst ausgehobene Keller seines Wirtshauses, den er üblicherweise als Vorratskammer nutzte, hatte sein Leben gerettet, als der Feuersturm über die Siedlung fegte. Er war verdreckt, in Lumpen gekleidet. Lange Strähnen verklebten Haars baumelten in sein Gesicht, das hinter einem dichten, verfilzten Bart verborgen war. Er war unterernährt, nur noch Haut und Knochen. Nicht in der Verfassung, dem Griff des kräftigen Ruby zu entrinnen, der ihn fest am Kragen gepackt hatte.
„Was ist hier geschehen?“ fragte Diamond, ohne Umschweife.
„Geschehen? Komische Frage!“ gluckste Chestwick. „Wonach sieht es denn aus?“
„Beantworte die Frage, Alter!“ grunzte Ruby und versetzte dem Wirt einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Aua! Lass das, du Grobian!“
„Mr. Ruby, bitte!“ ging Diamond dazwischen. „Verzeihen Sie die schlechten Manieren meines Begleiters, mein Herr. Aber wir müssen wirklich wissen, was sich hier zugetragen hat...“
„Zugetragen?“ sinnierte der Wirt. „Oh ... ja! Bumm! Große Explosion! Feuer! Überall! Alles weg...“
„Gibt es weitere Überlebende?“
„Was?“
„Sind Sie hier allein?“
„Wer?“
„Allein! Nach der Explosion und dem Feuer ... waren Sie da allein?“
„Oh, nein!“
Wild schüttelte Chestwick mit dem Kopf.
„Sven ... und O’Rourke, der irische Mistkäfer ... in meinem Keller...“
„Und wo sind sie jetzt?“
„Wer?“
„Dieser Sven ... und dieser O’Rourke! Was ist mit ihnen?“
„Oh ... tot! Traurig!“ seufzte der Wirt. „Sven hat was gebissen. O’Rourke? Fieber, glaub ich...“
Gedankenverloren strich er durch seinen Bart.
„...oder war es umgekehrt?“
„Und sonst war da niemand?“ erkundigte sich Diamond weiter.
„Wie?“
„Sonst ist niemand davongekommen?“
„Hmm...“
Versonnen starrte Chestwick ins Leere.
„...da war ein Schiff ... O’Rourke hat gesagt, Svens Familie sei auf dem Schiff...“
„Da war ein Schiff?“ wurde Diamond hellhörig.
„Ja ... ein Schiff“, murmelte Chestwick.
Er schien meilenweit entfernt.
„...ist einfach davongesegelt...“
„Erinnern Sie sich an den Namen des Schiffes?“
„Welches Schiff?“
„Versuch nicht, uns für dumm zu verkaufen, Alter!“ verlor Ruby daraufhin die Beherrschung.
„Ich glaube nicht, dass er uns etwas vormacht, Mr. Ruby“, mischte sich Emerald ein. „Der Mann ist offensichtlich gestört. Der Schock ... die Isolation. Nervenfieber, würde ich sagen. Möglicherweise Sonnenstich...“
„Sie sind der Experte“, schnaubte sein Begleiter.
„Wer sind Sie?“ fragte Chestwick, als hätte man ihn gerade aus dem Schlaf gerissen.
Diamond nahm einen tiefen Atemzug.
„Wir sind auf der Suche nach ein paar lieben Freunden von uns, guter Mann“, erwiderte er geduldig. „Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Es sind die Plumptons ... Nicholas und Elizabeth ... und ihr kleiner Sohn ... Charles Philip...“
„Oh ... der kleine Charlie!“ stieß Chestwick hervor.
„Ganz recht“, entgegnete Diamond. „Wissen Sie, was aus dem kleinen Charlie...?“
„Wer ist Charlie?“
„Es hat keinen Zweck!“ bemerkte Emerald kopfschüttelnd. „Wir können hier noch stundenlang stehen und reden ... und würden doch nicht schlauer werden. Vielleicht gab es ein Schiff, auf dem einige der Siedler entkommen konnten ... vielleicht auch nicht.“
„Ich fürchte, Sie haben recht, Mr. Emerald“, seufzte Diamond. „Mr. Ruby, bitte erlösen Sie den Mann von seinem Elend...“
„Sehr gern, Mr. Diamond!“
Ruby zog ein Messer, packte sich den Wirt und schleppte diesen zurück ins Gebüsch.
„Hey! Was soll d...“
„Falls es tatsächlich ein Schiff gab ... könnten sie jetzt überall sein“, grübelte Diamond.
„Vielleicht sind sie einfach bei dem Ausbruch ums Leben gekommen“, erwiderte Emerald.
„Vielleicht“, sinnierte Diamond. „Vielleicht auch nicht...“
3. Keine Gefangenen
Britisch Westindien. Karibische See. Die ‚Eleanore’ machte gute Fahrt. Unter vollen Segeln hatte die kleine Bark den Nordostpassat im Rücken. Es ging nach Hause.
Über die Sommermonate war man im Nordatlantik auf Walfang gewesen. Elf