„Ich weiß von nichts!“
„Nun gut.“ Diamond nickte Ruby zu, der ihm erwartungsvoll entgegen blickte. „Ich kann Ihnen versichern, Mr. Abercombe, dass mir das keinerlei Vergnügen bereitet...“
Ruby packte die rechte Hand des Gefesselten und setzte eine schwere Kneifzange am vordersten Glied dessen kleinen Fingers an.
Es gab ein ekelhaft knirschendes Geräusch, das gleich darauf von den markerschütternden Schreien Abercombes übertönt wurde. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Der hagere Emerald hielt ihm ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase.
Wild warf Abercombe den Kopf hin und her (soweit es der Strick um seinen Hals zuließ). Er hustete, kreischte und spuckte, bis er schließlich in sich zusammen sackte. Das blutige Fingerglied baumelte noch an ein paar Hautfetzen von der Hand hinunter.
Ruby legte die Zange beiseite. Er schritt zum Wasserbottich, füllte den Eimer und übergoss den bemitleidenswerten Abercombe erneut.
Blutend, durchnässt und halb ohnmächtig hing dieser in den Seilen. Ruby packte ihn am Haarschopf, damit er Diamond ins Gesicht sehen konnte.
Emerald hielt das Riechsalz bereit.
„Nun, Mr. Abercombe“, sagte Diamond schließlich. „Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, dass wir dies eine lange Zeit fortsetzen können! Kommen wir also zum Geschäft...“ Er griff in seinen Gehrock und zog ein gefaltetes Papier aus der Innentasche. „Wie ich schon sagte, haben wir ein recht klares Bild über die Ereignisse jener Nacht in Bromset Hall und derer unmittelbaren Folge. Was ich von Ihnen benötige, ist ein Name...“
Abercombe sank in sich zusammen.
Sofort war Emerald mit dem Riechsalz zur Stelle.
Diamond hielt das Papier aus seiner Tasche hoch. „Dies ist die sehr kurze Liste aller in Frage kommender Schiffe, die Englands Häfen im besagten Zeitraum verlassen haben. Ich bezweifle, dass Sie über diese Information verfügen ... mit Ausnahme des richtigen Schiffes, versteht sich! Hier also ist das Geschäft: Sie, Mr. Abercombe, nennen mir den Namen des Schiffes, auf das Sie Sharinghams delikate Fracht verbracht haben ... und Ihre Tortur findet ein schnelles, gnädiges Ende. Sollten Sie auf die Idee kommen, mir einen Namen zu nennen, der sich nicht auf dieser Liste befindet, haben Sie dieses Privileg verspielt! Mr. Ruby und Mr. Emerald werden Ihre Behandlung dann auf unbestimmte Zeit fortsetzen! Es ist Ihre Entscheidung! Aber glauben Sie mir ... so oder so, Sie werden mir den Namen nennen!“
„Fahren Sie zur Hölle!“ stieß Abercombe trotzig hervor.
„Wie Sie wünschen“, erwiderte Diamond gelassen. „Mr. Emerald, ich denke, sein Auge wäre ein guter Anfang...“
Wieder packten Rubys kräftige Hände Abercombes Kopf, um ihn ruhig zu halten.
Langsam näherte sich das sichelförmige Skalpell dessen Gesicht.
Mit allen verbliebenen Kräften versuchte Abercombe zu strampeln, den Kopf abzuwenden, sich zu befreien. Er heulte und spuckte, verlor mehr und mehr die Selbstkontrolle. Er spürte bereits das kalte Metall des Instruments an seinem Augapfel, als er dem Druck nicht länger standzuhalten vermochte.
„‚Lady Prentiss’!“ resignierte er bloß noch.
„Mr. Emerald!“
Sofort zog dieser das Skalpell zurück.
„‚Lady Prentiss’ ... Liverpool“, wiederholte Abercombe geschlagen.
Diamond konsultierte kurz seine Liste.
„Eine weise Entscheidung“, bemerkte er zufrieden.
Ruby griff daraufhin nach einem Stock und stieß ihn hinter den Strick, der Abercombes Hals an den Stützbalken fesselte. Dann begann er, den Stock zu drehen.
Knirschend schnürte die improvisierte Garotte Abercombe die Kehle zu. Ein letztes Mal noch bäumte sich dieser keuchend und röchelnd auf, um nach kurzem Todeskampf endgültig zu erschlaffen.
Seine Blase entleerte sich.
Urin tropfte vom Stuhl hinab.
Diamond schenkte dem keine Beachtung mehr. „Achten Sie darauf, dass Sie keine Spuren hinterlassen, meine Herren“, wies er seine Begleiter lediglich an. „Ich kümmere mich um die letzten Vorbereitungen...“
*
Polynesien. Südlicher Pazifik. Hier, vor der Küste eines kleinen Eilands der Gesellschaftsinseln (nordwestlich von Tahiti), war vor etwas mehr als vier Jahren der Dreimaster ‚Lady Prentiss’ von Anker gegangen. ‚New Manchester’ nannten die Siedler ihre Kolonie, die sie dort nach ihrer Ankunft gründeten; denn aus Manchester und Umgebung waren sie gekommen, um der fortschreitenden Industrialisierung zu entrinnen.
Erst gut dreißig Jahre zuvor war diese Inselgruppe kartiert und für die britische Krone in Besitz genommen worden. Kaum geeignet für die Bedürfnisse des sich ausbreitenden Empire, nannten sie Kritiker aus den Reihen der Admiralität. Schließlich seien die Inseln (wenn überhaupt) bloß von Primitiven besiedelt, die nichts von Wert produzierten.
Den Kolonisten hingegen war das ganz recht. Sie suchten kein zweites England. Phantastische Geschichten hatten sie von den Seeleuten über diese Region gehört: von tropischen Palmenstränden, von fremdartigen Tieren und Pflanzen. Wie Götter sei man von einigen der Eingeborenen empfangen worden. Sie hörten von der Schönheit der polynesischen Frauen, barbusig, nach Kokosöl duftend — was vor allem bei den Junggesellen unter den Siedlern für Eindruck sorgte. Schon ein kleines Stück Metall als Gabe solle ausreichen, damit sich eine der Schönheiten willig hingab. Man erzählte sogar, eines der frühen Entdeckerschiffe sei nach einem Besuch beinahe gesunken, da die Mannschaft derart viele Bolzen, Schellen und Nägel aus dem Schiffskörper entfernt hatte, dass dieses seine Integrität verlor.
Sie hörten aber auch unheimliche Geschichten von Menschenopfern, von denen man Zeuge geworden war. Heidnische Priester sprachen rituelle Formeln über die Opfer, die zuvor mit Knüppeln totgeschlagen wurden. Symbolisch riss man den Leichen ein Auge aus, um so die Göttern zu besänftigen. Die Schädel stellte man auf Altären zur Schau.
Sie hörten von Feindseligkeiten mit manchen Insulanern, die mit Stöcken, Speeren und primitiven Bögen auf die Eindringlinge losgegangen seien, Feindseligkeiten, denen schließlich auch der Entdecker der Inseln zum Opfer gefallen war.
Aber was war das im Vergleich zu der Plackerei in den Kohleminen von Manchester oder Leeds, die für viele der Siedler zur einzigen Möglichkeit des Broterwerbs geworden war? Das mühsame Kriechen durch die engen Stollen. Halbnackt, kniend oder auf dem Rücken liegend die Kohle losbrechen. Der allgegenwärtige Staub, der jede Pore des schwitzenden Körpers verklebte und tief in die Lungen eindrang. Die ständige Gefahr, an plötzlich ausströmenden giftigen Dämpfen und Gasen zu ersticken oder verbrannt zu werden, sollten sich diese an den Flammen der Grubenlampen entzünden. Wie viele gute Männer hatten auf diese Weise bereits ihr Leben verloren?
Und was waren ein paar Schauergeschichten im Vergleich zu der zunehmenden Verödung ihrer Heimat? Das Grün vergangener Tage wich immer mehr dem Grau. Bäume, Felder und Gärten verschwanden. Dampfende Schlote schossen allerorts wie Pilze aus dem Boden. Blei- und Kohleminen, Steinbrüche, Schmelzöfen und Ziegelfabriken. Man hörte das Klappern der mechanischen Webstühle aus den Baumwollspinnereien und überall das Fauchen und Zischen der Dampfmaschinen, die das Antlitz der Welt für immer verändern sollten.
Die Armen schufteten, damit die reichen Fabrikbesitzer noch reicher wurden, bloß um dabei selbst ein jämmerliches Dasein zu fristen.
Keiner der Siedler weinte alledem auch nur eine Träne nach, als sie an einem frostigen Novembermorgen in Liverpool an Bord der ‚Lady Prentiss’ gingen, um der Alten Welt für immer den Rücken zu kehren. Hier, auf ihrer Insel, gab es blütenweiße Strände,