FREMDKÖRPER. Michael Haderer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Haderer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738088106
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und sich die Kleingeld-Sammlung vornehmen können. Geld für eine Flasche billigen Fusel könnte er womöglich noch zusammenkratzen. Die gab’s beim Supermarkt am Praterstern. Damit hätte er die wirren Gedanken so weit betrunken machen können, dass sie langsamer flögen und ihn nicht so schwindelig machten. Ein paar von ihnen würden vielleicht sogar einschlafen und ihn für ein Weilchen in Ruhe lassen.

      Herb breitete die Münzen auf seinem Diwan aus und sortierte sie nach ihren verschiedenen Werten. Oder sagen wir, er hätte sie gerne so geordnet. Seine vergeblichen Bemühungen konnten einem fast Mitleidstränen in die Augen treiben. So würde er bei Monty Pythons Upperclass Twit of the Year spielend um den Sieg mitmischen. Schließlich schob er den ganzen Haufen Kleingeld entnervt in einen Plastiksack. Es warteten ja noch andere Hürden, die es zu überwinden galt. Er musste es vom zweiten Stock hinunter auf die Straße schaffen, an Franzi möglichst unfallfrei vorbei und runter zum Praterstern. Mit Straßenbahn, Neujahrsdrachen oder zu Fuß. Das Wie war ihm egal.

      Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Ein eisiger Wind kündigte eine weitere bitterkalte Winternacht an. Daher hatte sich alles, was sonst draußen auf dem Platz herumlungerte, in das Geschäft hinein gedrängt. Ein wenig Wärme für die Vergessenen, die von ihren Familien Verstoßenen, und für jene, welche man, so wie sie sich benahmen, selbst aus dem eigenen Kreis verstoßen hätte und Gott dankte, dass man unter normalen Umständen nie mit ihnen zu tun bekam. Natürlich waren auch die Anständigen gekommen. Die von der Ehefrau noch um ein Häuptel Salat fürs Abendessen Geschickten. Oder die Optimisten, die eine Flasche guten Weines besorgten, um damit das neue Date zu ersten sexuellen Handlungen zu verleiten. Die besseren Leute versuchten angestrengt, jedem Augenkontakt auszuweichen, der darauf abzielte, ihnen die paar Groschen abzubetteln, die nötig waren, um die vom Alkohol dominierten Sehnsüchte bei Laune zu halten.

      Herb begab sich zum Regal mit dem billigen Schnaps. Er war kein Schnorrer und schon gar kein Alkoholiker. Behauptete er. Er hatte eine Mission. Die unbändigen Gedanken mussten gezähmt werden. Eine Art Safari, für die er Betäubungsmunition brauchte. Außerdem hatte er einen dicken Sack Geld mitgebracht. Das allein schon unterschied ihn von diesen Verlierern, die mit ihren paar Kröten nicht einmal den Gegenwert eines Mini-Jägermeisters aufbringen konnten.

      Er schnappte sich triumphierend eine Wodkaflasche.

      »Size does matter!« Mit dieser Feststellung brachte er seine Beute an die Express-Kassa, also jene Kassa, an der sich ausschließlich Kunden anstellen durften, die nicht mehr als fünf Artikel in Kaufabsicht bei sich trugen. So stand es auf einem großen Schild – dicke gelbe Buchstaben auf rotem Grund. Neidvolle Blicke trafen Herb, losgeschickt von den vielen armen Seelen mit den übervollen Einkaufswagen, wegen der ungerechten Bevorzugung. Es war vielleicht auch der Wodka, den sich einer in der Warteschlange zum Durchstehen der halben Ewigkeit herbeiwünschte, die ihn die unbeholfene Aushilfskraft an der Kassa noch an Lebenszeit kosten würde.

      Es gibt eine höhere Gerechtigkeit.

      Als Herb für seine Flasche den prallen Sack mit Münzen im Wert von zwei und fünf Groschen eintauschen wollte, drückte die Kassierin ungerührt einen versteckten Alarmknopf, der zwar nicht gleich die Polizei, dafür aber den gestressten Filialleiter auf den Plan rief. Völlig außer Atem erreichte der den Kassenbereich und schüttelte sogleich abwehrend den Kopf und den Zeigefinger seiner rechten Hand. Keine Chance.

      »Wir sind hier keine Wechselstube!« hechelte der aussichtsreiche Kandidat auf den nächsten Premium-Schlaganfall.

      »Geld ist Geld«, protestierte Herb.

      »Nein, lieber Herr. Hier ist Geld nicht gleich Geld. Hier zahlen Sie bitte in Scheinen, mit Karte oder sonst irgendwie für einen normalen Menschen nachvollziehbar«, hechelte der Filialleiter aufgeregt die Regeln seines Hauses nach. Es kam ihm in den Sinn, dafür auch ein Schild anzubringen. »Hier hat niemand die Zeit, sich mit Ihrer jämmerlichen Kleingeld-Sammlung zu beschäftigen. Also, wenn ich Sie bitten dürfte, die Ware zu bezahlen oder unser Haus ohne diese zu verlassen, damit ich mich wieder meiner eigentlichen Arbeit zuwenden kann.«

      Da Herb heute offenbar sein uneinsichtiges Gesicht mitgebracht hatte, fuchtelte der Filialleiter ärgerlich mit einer Hand dem Sicherheitsdienst zu. Ein schneller Abgleich des Kampfgewichtes und Herb entschied, den Wodka doch am Förderband seiner weiteren Bestimmung zu überlassen. Mitsamt seinem Sack verließ er das undankbare Konsum-Etablissement. Die Warteschlange nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis.

      Da stand Herb nun in der eisigen Kälte mit einem Sack voller Geld ohne Wert. Der Wind blies ihm Neuschnee ins Gesicht. Wenigstens gaben Ohr und Hirn zurzeit etwas Ruhe. Er besah sich seinen Reichtum und beschloss, ihn in das Wettcafé zu tragen. Dort kannte man ihn. Ein Glas Bier würde ihm der Kellner sicher für seine Münzen einschenken. Vielleicht ging sich sogar ein zweites aus und eine kleine Wette. Das klang gut. Damit wollte er den verdammtesten aller seiner Geburtstage ausklingen lassen.

      Seine Schritte rissen dunkle Streifen in die dünne Schneedecke, während er den Platz überquerte. Er hatte den Kragen seines Mantels und die Schultern hochgezogen, so gut es ging, damit möglichst wenig Schnee bis zu seinem Hals durchdringen konnte. Endlich öffnete er die Tür des Cafés und mit ihm wehte ein wenig Winter in die hermetische Welt der Spieler und Glücksritter. Ein kurzer verächtlicher Blick für den Neuankömmling, und schon fixierten sie wieder die Monitore der Verheißung.

      Herb deponierte den Geldsack auf dem Tresen, um damit den Kellner anzulocken.

      Der warf einen flüchtigen Blick auf den Inhalt.

      »Weißt du was? Ich schreib’s auf. Du kannst es das nächste Mal bezahlen. Deinen Schotter behalte ruhig. Ich bin doch nicht blöd und zähl den ganzen Haufen da nach.« Der Kellner schüttelte abwertend den Kopf, während er den Zapfhahn zog und das Bier langsam in das Glas laufen ließ. »Was seid ihr nur für Loser hier«, murmelte er halblaut. Er hielt sich für etwas Besseres.

      Herb war egal, was der dachte. »Er plustert sich auf. Dabei kommt er täglich hierher, um andere zu bedienen. Obwohl er dem Landauer sicher nicht einmal einen Hungerlohn wert ist. Wer ist da der wirkliche Loser?«, ging es ihm durch den Kopf. Er nahm sein Getränk in Empfang und zum ersten Mal an diesem seinem Geburtstag fühlte er sich gut. Der unbezahlbare Moment der völligen Zufriedenheit mit sich und der Welt. Glück war so einfach zu haben. Die seltsamen Erscheinungen waren verschwunden, sein Hirn funktionierte wieder wie geschmiert. Vielleicht war das ein Zeichen.

      »Glaubst du, der Landauer gibt mir Kredit für ein kleines Spielchen?«

      »Frag ihn doch! Er ist drüben in seinem Büro«, schlug der Kellner vor und malte Herbs Namen auf einen Zettel. Gleich darunter setzte er den ersten Strich. »Oder frag besser vorher das Riesenbaby. Bin nicht sicher, ob der Landauer wegen so was gestört werden will.«

      »Hm, danke. Werd’s mir überlegen.«

      Das Riesenbaby war der Leibwächter vom Landauer. Nie freundlich und auch nie unfreundlich, selbst wenn er einem die Eier quetschte, weil man mit der Rückzahlung seiner Spielschulden in Verzug geraten war. Eher wie ein Stein – gefühlsmäßig. Dafür aber wie ein Berg – körpermäßig und so klug wie ein Troll aus einem „Herr der Ringe“-Film.

      Herb fühlte sich ein bisschen unsicher, ob die Zeichen wirklich so klar auf Sieg stünden, dass er deshalb gleich King Kong auf sich aufmerksam machen sollte. Ein vernünftiger Mensch hielt sich von ihm fern. Man hängt ja irgendwie am Leben. Wenn es nicht etwas absolut Unvermeidliches war, das mit ihm besprochen werden musste, ließ man es besser bleiben.

      Ein zweites Glas Bier würde Klarheit bringen.

      Aber erst das dritte erfüllte ihn mit diesem vertrauten, trügerischen Gefühl von Mut und Stärke, wo Bescheidenheit und Unsichtbarkeit angebracht gewesen wären.

      Nun stand Herb also von seinem Barhocker auf – nicht ohne seinen Sack voller Kleingeld – und durchquerte das Lokal, wie in Zeitlupe, vorbei an den Poker-Automaten. Es schien ihm, als begleiteten ihn die bewundernden Blicke der Spieler auf seinem Weg zum Kampf mit dem Ungeheuer, das die schöne blonde Frau in seiner Gewalt hielt, die zu befreien der einsame Held ausgezogen war, ohne den Tod zu fürchten.

      Als