Herbs Zunge verweigerte zuerst den Gehorsam.
»Was willst du?« Der Gorilla versuchte es noch einmal.
»Ich …«
»Ja?«
»Ich … ich würde gern den Landauer sprechen«, stotterte Herb und fügte untertänigst hinzu: »Wenn es gestattet ist.«
»Was willst du von ihm?«
»Ich möchte ihn fragen …«
»Na?« Wachsende Ungeduld grollte vom Berg auf ihn hinunter. »Was willst du ihn fragen?«
»Ich wollte … ich möchte gerne für ein oder zwei Spielchen. Es wär wegen einem kleinen Kredit, weil ich sicher bin, dass ich heute eine Strähne hab. Eh nicht der Rede wert. Und, wenn es nicht geht, dann ist es auch recht. Ich will ja nicht stören, wegen so was.« Es war nicht gerade Heldenmut, der aus Herb sprach. Aber immerhin, er hatte den Kern der Botschaft auf den Weg gebracht.
»Mal sehen.« Der Berg erhob sich langsam, um seine Umgebung nicht zu beschädigen, und verschwand in der Bürotür, die er bisher mit seinem Körper verdeckt hatte.
Es dauerte.
Es dauerte zu lange.
So lange hatte Herbs Verstand den Aufenthalt in dieser Realität nicht eingeplant.
Schon begann sich die Bürotür in kleine Partikel aufzulösen und in sich zusammenzufallen. Ebenso wie die Automaten und Fernseher, die Spieler und der arrogante Barmann. Die ganze Einrichtung zerbröselte vor Herb zu Staub. Dann war da nur noch das große schwarze Loch, das alle Partikel in einem gewaltigen Strudel in sich hineinzog. Unbarmherzig wurde auch Herb vom Nichts verschluckt.
Von außen betrachtet sah die Szene etwas anders aus. Für den Augenwinkel des Zockers, der am Bildschirm neben dem Büro saß und gerade überlegte, ob er sich mit einem König-Drei-Blatt auf ein Spiel mit seinen virtuellen Gegnern einlassen sollte, war Herbs Körper nur eine leblose Masse, die zu Boden fiel. Er schien vielleicht ein wenig genervt von der unerwünschten Ablenkung. Schließlich ist Texas Hold’em kein Glücksspiel. Da muss man sich konzentrieren können. War ja nicht sein Problem, was immer das Problem war. Er drückte einen Knopf und ärgerte sich über den Flop, der seine Gewinnchancen auf ein paar Krümel minimierte. Flop war da das richtige Wort.
Herbs Gliedmaßen zuckten unkontrolliert. Der Plastiksack mit seinem Schatz war, als er auf den Boden prallte, geplatzt und sein Inhalt in alle Richtungen geschossen. Natürlich hoben die Spieler im Lokal bei dem Geklimper reflexartig den Kopf. Schien ja für einen kurzen Moment, als hätte jemand den Jackpot geknackt. Darauf waren ihre Automatenhirne programmiert. Wegen der wertlosen Groschen-Münzen hielt die Neugier keine zwei Sekunden. Schon beeindruckend, wie schnell die Profis aus Fallgewicht und Aufprallgeräusch errechnen konnten, dass sich die Sache nicht lohnte. Herbs Arme zappelten mit seinen Beinen um die Wette. Schaum trat aus seinem Mund. Als hätte ihn jemand in ein frisches Bier getaucht. Ziemlich gruselig. Ein Exorzismus hätte vielleicht etwas gebracht. Aber hier im Wettcafé saß heute kein Priester. Der Dämon hatte leichtes Spiel.
»Klassischer Fall. Spontanentladung der Nerven im Gehirn. Ein Epi, wie er im Buche steht.« Nun erhob er sich also doch von seinem elektronischen Pokertisch. Er war schließlich Rettungssanitäter und hatte sogar noch die graue Uniform an. Quasi seine Pflicht, sich einzumischen. Auch nach Dienstschluss. Besonders, da die Maschine gerade die besseren Karten hielt.
»Lasst mich vorbei!«, rief der eingebildete Ersthelfer, als hätte sich bereits eine undurchdringliche Traube Schaulustiger um das Opfer gebildet. Er zog dabei einen kleinen Gummikeil aus der Brusttasche und steckte ihn Herb zwischen die Zähne. »Damit er sich nicht die Zunge abbeißt.« Dann ging er seelenruhig zurück zum Automaten und spielte weiter. »Mehr kann ich im Moment nicht für ihn tun.«
Herbs Extremitäten machten, was sie wollten. Hals, Kopf und Torso – ein einziges zappelndes Etwas. Als hätte ihn ein Sadist an den Stromkreis angeschlossen und spielte mit dem Schalter. Krampf ein, Krampf aus. Krampf ein, Krampf aus. Die Beine stießen an die Bürotüre des Landauer. Sie wollten sich über die Nichtbeachtung seines Anliegens beschweren.
Normalerweise hätte Landauers Leibwächter den Störenfried in Sekundenschnelle zur Ordnung gerufen und für nachhaltige Ruhe gesorgt. Aber hier gab es keinen aufgebrachten Spieler zu bändigen, der den Verlust seines Monatslohns nicht verkraften konnte. Zuerst brauchte er ja schon mal eine Ewigkeit, um wenigstens das Einfache zu verstehen. Dass der vermeintliche Angreifer nicht einmal annähernd auf Augenhöhe zu suchen war. Dass dieser auf dem grindigen Boden des Wettcafés rollte und sein Speichel zu einem Cappuccino aufgeschäumt war, überforderte das, bemessen an der Körpergröße, doch verschwindend kleine Gehirn des Riesenbabys. Als müsste die Angelegenheit erst, in kleine Teile zerlegt, in eine Postkutsche verladen werden, ehe sie sich damit auf den Weg in die Tiefen eben dieses kleinen Gehirnes aufmachen konnte, um dort vielleicht jemanden zu finden, der das alles verstehen und eine vernünftige Entscheidung treffen würde. Hilfesuchend drehte er sich zum Landauer. Er brauchte einen Befehl, eine Handlungsanleitung, irgendetwas.
»Räum ihn aus dem Weg!«, kam es von seinem Arbeitgeber, der sich nun, da sich die Sache als wenig bedrohlich erwiesen hatte, aus der Deckung wagte und sein fahles, von schwerer Krankheit gezeichnetes Gesicht zeigte. Die Wangen hingen ihm in bleichen Falten von den Jochbeinen. Sein Körper, obwohl höchstens fünfundvierzig Jahre alt, schien nach und nach den Betrieb einstellen zu wollen. Um diesen unvermeidlichen Prozess des Verfalls wenigstens etwas zu verlangsamen, zog der Landauer stets einen kleinen Wagen mit Sauerstoff hinter sich her. Dünne durchsichtige Schläuche taten ihr Bestes und beförderten lebenserhaltende Luft aus den Flaschen in die schwarzen Lungen des Königs der Sportwetten.
Der Leibwächter sah ihn verständnislos an.
»Aus dem Weg räumen?«
»Nein, nicht so aus dem Weg. Idiot!« Wenn sich der Landauer über etwas aufregte, wie zum Beispiel eine blöde Frage, bekam er immer einen kleinen Hustenanfall. Nur kurz, aber heftig. Und nach jedem dieser Anfälle schien wieder etwas weniger Lunge zum Atmen für ihn übrig zu bleiben.
»Räum ihn einfach etwas zur Seite, damit ich nicht über ihn drübersteigen muss. Geht das in dein Spatzenhirn? Er interessiert mich nicht. Oder besser noch: Ruf die Rettung. Die sollen ihn abholen kommen. Aber nicht aus dem Lokal. Klar? Trag ihn raus auf den Platz und leg ihn auf eine Parkbank. Ich will damit nichts zu tun haben.«
»Ist klar, Chef.« So brauchte er das. Vorgekaut und leicht zu verdauen. Je unkomplizierter der Auftrag, desto besser funktionierte der Mann. Er schnappte sich den zappelnden Körper und trug ihn überraschend behutsam vom Chefbüro weg. So viel Zärtlichkeit hätte man ihm nicht zugetraut. Da hatten sich wieder alle von reinen Äußerlichkeiten täuschen lassen. Typisch.
»Bá-e-Yaan!«, schrie Herb plötzlich. »Warte! Ich komme mit! Báe-Yaaa-aaan!« Sein Anfall wurde so stark – das glaubte man nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte –, dass der Gorilla, dieser unglaublich riesige Berg von einem Kraftsportler, ins Wanken kam. Mitsamt dem Epi stürzte er nach hinten auf den Rettungssanitäter und begrub ihn und seine ganze elektronische Pokerrunde unter sich.
Der Landauer war in dem Moment gerade dabei, seinen Sauerstoffwagen durch den Hauptraum des Lokals zu ziehen, um dort nach dem Rechten zu sehen.
»Was?«, hustete er aufgeregt, ohne sich auch nur einen Deut um die Gesundheit der Gefallenen zu sorgen. »Was hat er gesagt?«
Niemand im Lokal hatte dem Geschrei von Herb Beachtung geschenkt. Warum auch? Gab’s dafür etwas zu gewinnen? Wie waren die Quoten, wenn man die Antwort wusste? Das war in diesem Ambiente der Dialekt, in dem kommuniziert wurde. Und der Gorilla musste sich nach dem Sturz erst wieder sortieren.
»Was hast du gesagt?«, wandte sich der Landauer daher direkt an Herb. Aber aus dem war nun wirklich nichts Vernünftiges rauszuholen. Er strampelte immer noch wie Ann Darrow in Kongs Armen.
»Da hab ich mich wohl verhört.« Gerade wollte sich der Landauer enttäuscht wieder