Die Zellentür war mit lautem Krachen geöffnet worden und zwei maskierte Wachen waren in den Raum getreten. Davon war sie aufgewacht. Sie öffneten Janis’ Fußfesseln und einer deutete ihr, indem er seinen Zeigefinger an ihre Lippen legte, sie so solle ruhig sein. Und mit einer anderen Geste gegen den Hals zeigte er ihr die Konsequenzen einer Zuwiderhandlung an. Janis hätte ihn nur zu gern gebissen.
Nun befreiten sie sie auch von den Gurten an den Handgelenken, nahmen sie von beiden Seiten mit einem harten Griff unter den Achseln und hoben sie hoch. Als ihre Beine den Dienst versagten, trugen die Wachen sie zur Tür. Ein letzter Blick zurück. Die Blumen waren nicht mehr in der Vase.
»Was macht ihr mit mir? Wo bringt ihr mich hin?«
Ein »Scht!« war die karge Antwort.
Sie schleppten Janis den Gang entlang bis zu der Tür, durch die, ganz wie in ihrem Traum, warmes Licht in den kalten Flur drang. Senfgelbe Bodenfliesen, blaustichig grüne Wandfliesen. Kaltes, grelles Neonlicht. Was war hier los? Wie war das möglich?
05
Molly Duvalle war schön wie immer. Knapp bekleidet mit dem unverwechselbaren roten Lackkostüm, das sie in all ihren Filmen für die kurze Sexualpartner-Kennenlern-Sequenz trug und das von ihrem Körper abfiel, sobald man einen versteckten Knopf drückte. Dieselben roten Lackschnürstiefel, die wasserstoffblonde Löwenmähne, hochgekämmt und mit Haarspray verklebt wie ein Punk, die Botoxlippen und die zwei herzförmigen Tattoos auf den beiden überdimensionalen Brüsten.
Dafür war Molly berühmt und beliebt. Sie hatte es geschafft, dem eintönigen Dasein, als sie noch als Brunhilde Gertlinger in diesem Provinzkaff im Mühlviertel lebte, zu entkommen. Nun war sie ein Star.
Sie galt schon in jungen Jahren als aufstrebendes Talent im darstellend-künstlerischen Umgang mit den Geschlechtsorganen. Niemand kann heute mehr genau sagen, wie viele Männer sich wohl an ihren anatomischen Besonderheiten und Vorzügen aufgeheizt und an ihren Stellungsvarianten und genussvollen Verrenkungen erleichtert hatten. Der Produzent, Kameramann und Regisseur der ersten Filme hieß Othmar Feiersinger und war Brunhildes Nachbar. Die Dreharbeiten erregten ihn aber derart, dass er regelmäßig, anstatt Molly bei der Arbeit zu filmen, selbst Hand an sich legte, weswegen wenigstens 30 Prozent der Aufnahmen nachher nicht zu gebrauchen waren. Kein Wunder, dass sich heute kaum jemand aus der Szene an ihn erinnern kann. Gerüchteweise soll Othmar Psychologie studiert haben und jetzt Psychiater sein. Oder er war auf der anderen Seite gelandet und war Patient in der Anstalt. Wer weiß das schon genau, die Grenzen sind da oft verschwommen.
Molly hingegen setzte sich, nicht zuletzt dank ihrer enormen Oberweite – immer ein Renner in dieser Branche – auf dem heißen Pornopflaster durch. Sie erreichte Spitzenverkaufszahlen an der Sexshop-Theke. Besonders seit sie dort die blickdicht anonymisierten Tragetaschen eingeführt hatten, mit denen sich endlich auch der fromme Christ unentdeckt und daher reinen Gewissens mit sündigen Utensilien versorgen durfte.
Das Dorf, in dem Molly aufgewachsen und das ihr im Alter von 15 Jahren schon zu eng geworden war, stand Pate für ihren späteren Künstlernamen. Aus Mollmannsreith im Mühlviertel nahe Oberkappel wurde Molly und anstatt des von Feiersinger vorgeschlagenen Nachnamens Bigboobs, entschied sie sich für das elegantere Duvalle. Die von Natur aus zwar schon beachtliche Körbchengröße von 95D mutierte dank Dr. Grafenauer in Linz zu selbst für die Pornobranche beachtlichen 125 Doppel-D. Die übergroßen Brüste zwängte sie so gut es ging in ein Mieder aus rotem Lackstoff – wobei sie zum Zuschnüren wenigstens zwei Helfer brauchte, damit das Ganze einigermaßen kompakt und verschlossen blieb. Als die Transformation Brunhilde Gertlingers zu Molly Duvalle endgültig abgeschlossen war, wohnte sie bereits in Wien und war ungemein erfolgreich, weil am Verkauf ihrer VHS-Videos umsatzbeteiligt. Sie konnte sich daher die Zusatzversicherung leisten, um damit den gut aussehenden Physiotherapeuten zu bezahlen, der ihr dabei half, mit den Haltungsschäden zurechtzukommen, die ihre schweren Brüste und die viel zu hohen Stöckel ihrer kniehohen, roten Lackschnürstiefel mit sich brachten.
Zu der Zeit, als Molly noch Brunhilde hieß, hatte sie eine kleine Affäre mit Herb, mit dem sie die Hauptschule Hofkirchen in der Gemeinde Oberkappel besuchte. Eine typische Liebelei zwischen Halbwüchsigen, sollte man meinen, für Herb war es jedoch die große Liebe. Das gestand er Brunhilde zwar nie, aber auch so hatte sie es irgendwie gespürt. Nur der Herbert, wie er damals von seiner Mutter noch genannt wurde, war halt zwei Jahre jünger als sie und da interessierst du dich eher für die Sechzehnjährigen, wenn du selbst fast vierzehn bist, als Mädchen, und aussiehst wie fast achtzehn, von der körperlichen Entwicklung her gesehen. Sechzehnjährige masturbierten schon. Das machte sie für die dem Sexuellen sehr aufgeschlossene Brunhilde allemal interessanter. Zu Herb sagte sie: »Wenn du zwei Jahre älter wärst, gäbe es für mich keinen anderen!«
Damit konnte Herb leben.
Jahre später entdeckte er zufällig eines ihrer Videos im diskreten Hinterzimmer seines nach außen hin sehr seriösen Videoverleihs und gab es nie mehr zurück. Sicher, er hätte das Band auch kaufen können, aber Herb ertrug lieber die wöchentlich anfallende Leihgebühr, als den Gedanken, dass irgendein Perverser aus dem Videoladen etwas Unaussprechliches mit seiner Jugendliebe anstellen könnte. So meinte er seine Brunhilde vor Schaden bewahren zu können.
Jetzt hatte Herb ja die Altersschwelle, an der er damals gescheitert war, schon deutlich hinter sich gelassen und die Kunst manueller Selbstbefriedigung beherrschte er mittlerweile meisterhaft in allen seinen Spielarten. Also wurde aus Brunhilde Gertlinger und Herbert Kratochvil alias Molly Duvalle und Herb Kratochvil doch noch auf diese etwas ungewöhnliche Art und Weise ein Liebespaar, wenn auch nicht ganz so romantisch, wie Herbert sich das seinerzeit ausgemalt hatte. Trotzdem gelobte er in jenem Moment, als er die VHS-Kassette zum ersten Mal in den Recorder schob, feierlich, mit keinem anderen Pornovideo je Sex haben zu wollen, bis dass der Tod ihn von seiner Brunhilde scheiden würde.
*
Als das Videoband an seinem Ende angelangt war, lag Herb immer noch regungslos auf seinem Diwan. Er hatte von der wenig dramatischen Handlung nicht viel mitbekommen. Aber er kannte den Film ja bereits, hatte ihn schon Hunderte, wenn nicht Tausende Male angesehen. Ein Wunder, dass die Kassette überhaupt noch Bilder lieferte.
Eine Spinne kroch aus dem verwundeten Ohr. Er erschrak erst und wischte sie mit einer hastigen Bewegung weg. Das kleine Tier landete auf dem Diwan und versuchte sich davonzumachen. Herb schlug zu. Einmal, zweimal, dann unzählige weitere Male. Bis sein Arm müde wurde. Endlich! Endlich bin ich sie los! Für einen Moment fühlte er sich wie ein Sieger. Doch das Gefühl währte nur kurz. Schon spürte er noch eine Spinne an seiner Wange und nach und nach krabbelten immer mehr Insekten aus ihm heraus. Hunderte. Nein, Tausende Kakerlaken, fette, grünlich schimmernde Schmeißfliegen und Käfer, ja sogar etliche Tausendfüßler bedeckten sein Gesicht. Ein einziges wirres Durcheinander Phobien auslösender, wirbelloser, fliegender oder kriechender Chitinpanzer und Eiweiße mit Beißzangen, Saugrüsseln und Giftstacheln. Herb schlug wild um sich, wischte sich eine Handvoll ab, und doch kamen unzählige dieser Viecher nach.
Er rannte, verzweifelt um Hilfe flehend, zur Wanne und ließ kaltes Wasser über seinen Kopf laufen. Für ein paar Minuten. Dann waren die Viecher wieder verschwunden und er schleppte sich erschöpft zum Sofa zurück. Er schien langsam den Verstand zu verlieren.
Es war ihm nicht möglich, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen oder sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Er bemühte sich vergeblich, einen Punkt an der Decke zu fixieren und herauszufinden, ob dieser Punkt etwa eine tote Fliege sei oder nur abgebröckelter Putz. Als läse er ein schwieriges Buch, in dem man einen Absatz beginnt und den nächsten und übernächsten, nur, um irgendwann festzustellen, dass man sich nicht ein Wort davon merken konnte, geschweige denn, seinen Sinn verstand. Ständig flogen wirre Gedanken durch seinen Schädel. Es schien unmöglich, sie einzufangen und in Ruhe zu betrachten. Hatte er es doch einmal geschafft, einen davon mit seiner Hand zu schnappen, zerplatzte dieser vor ihm wie eine Seifenblase,