1 Die Feuerprobe
Florenz, 1498 n. Chr.
Girolamo Savonarola kniete seit Stunden vor dem Korridor und betete. Wände aus Feuer ragten vor ihm und warteten darauf, von ihm bezwungen zu werden. Was sein größter Triumph werden und seine Gegner endgültig verstummen lassen sollte, drohte ihn nun zu vernichten. Die Hitze brannte auf seinem Gesicht. Die Haut war an mehreren Stellen wund und schmerzte unerträglich. Im Mund konnte Girolamo sein eigenes Blut schmecken. Kein göttliches Donnern, kein Regen, kein Zeichen Seines Beistandes. Hatte Gott ihn verlassen? Seine Verzweiflung stieg. Das durfte nicht sein! Nicht jetzt, wo es darum ging, den Glauben der Menschen in Zeiten des Umsturzes zu festigen. Nicht jetzt, wo er Seine Führung so dringend benötigte! Er wollte doch nur Seinem Willen gehorchen und Ihm folgen, selbst durch die Flammen hindurch. Aber er konnte das nicht ohne Ihn! Warum versagte Er ihm im entscheidenden Moment Seine Hilfe? Girolamo spürte die verächtlichen Blicke des Bischofs und seiner Gefolgsleute im Nacken. Spürte, wie der Gesandte des Papstes Alexander VI. darauf wartete, dass er versagte. Darauf wartete, dass seine Anhänger ihn verließen. Darauf wartete, dass sich seine engsten Vertrauten gegen ihn wandten.
„Frater Girolamo, Ihr müsst es tun! Die Menschen werden unruhig! Ihr müsst jetzt hindurchgehen, oder wir verlieren sie!“, schrie Frater Domenico, um das überwältigende Tosen des Feuers und die ungehaltenen Gläubigen zu übertönen.
Girolamo versuchte inmitten dieses Sturms, dem Herrn nahe zu sein, Seine Anwesenheit zu spüren, Seine Stimme zu hören. Seine Fingernägel hatten sich im Gebet tief in das Fleisch seiner Handrücken gebohrt. Das getrocknete Blut sah schmutzig aus. Unrein! War er selbst zu einem dieser wankelmütigen Sünder geworden, wie die, von denen er nun mit zunehmendem Misstrauen angesehen wurde?
„Frater Girolamo, Ihr werdet doch nicht etwa an dem Herrn zweifeln? Frater!“, rief Frater Domenico bestürzt.
War es so? Hatte er in der Vergangenheit seinen Glauben zu sehr auf Zeichen gestützt? Und genau hier forderte er erneut eines von Ihm - ein Zeugnis, für alle sichtbar, dass Gott ihn als Hirten auserwählt hatte. Hatte er sich zu hoch erhoben, indem er vom Herrn Anerkennung für seine Treue forderte? Wollte Er ihn Demut lehren? Hinabgestoßen von der hohen Kanzel auf die trockene Erde, lag er nun vor Ihm im Staub, ausgedorrt und gebrochen. Er hatte die Sünde -ihre Sünde- mit Feuer bekämpft, dem Element, über das sie herrschte. Girolamo verstand plötzlich - er hatte sich der Ketzerei schuldig gemacht und Gott verraten! Er war kein Quell des Glaubens mehr.
Seine Ordensbrüder verharrten in Erwartung weiterer Befehle. Doch Girolamo erkannte noch etwas anderes in ihren Augen: Enttäuschung, Zorn, Verachtung! Versagte er heute, würden sie sich gegen ihn wenden. Doch letztendlich erfüllten sie nur ihre Bestimmung. So, wie sie ihm bislang gefolgt waren, würden sie nun zur helfenden Hand seines Henkers werden. Das Feuer, welches er so lange gelenkt hatte, welchem sich tausende Menschen gebeugt hatten, versperrte ihm jetzt den Weg. Das Licht, das ihn bislang geführt hatte, blendete ihn nun und wies ihn ab. Er nahm darin keine Verheißung der Erlösung wahr, sondern Verdammnis.
Girolamo musste sich dem Entschluss des Herrn, dass er am Ende seines Weges angekommen war, ergeben. Er hatte es vor langer Zeit vorhergesehen. Er wusste, die Flammen würden ihn eines Tages einkreisen und verschlingen. Er hatte nur gehofft, dass er genug Zeit haben würde, etwas von Bestand zu erschaffen, und er nicht nur ein Strohfeuer war, über dessen heiße Asche sich jeder Ungläubige barfuß wagte! Es war an der Zeit, Vorkehrungen zu treffen. Girolamo senkte sein Haupt. Er dankte dem Herrn für die Erkenntnis und die Ehre, Ihm gedient haben zu dürfen.
Die wütende Meute um ihn herum kam in Bewegung und musste von den Wachen zurückgehalten werden. Die abfälligen Zurufe häuften sich - ein untrügliches Zeichen für den beginnenden Abstieg! Und noch eher das Feuer erloschen war, hatte sich seine Glaubensgemeinde aufgelöst, um sich vor dem Gold um den Hals seines Feindes zu verneigen.
2 Das Kloster
Tiefstes Schwarz. Langsam fing die Dunkelheit an, sich in Facetten zu teilen. Schatten tanzten über ihr und lockten sie, ihre Augen zu öffnen. Es wurde allmählich heller und sie erkannte deutliche Umrisse.
„Signorina! Signorina Vestalia!”
Die Männerstimme bohrte sich messerscharf in ihren Kopf. Zuerst setzte das Pochen in der rechten Schläfe ein, und breitete sich augenblicklich zu einem rasenden Schmerz über die ganze Stirn aus. Sie musste ihre Augen zusammenkneifen. Sie presste ihre Finger auf die pulsierende Ader. Abwechselnd übte sie leichten Druck aus und ließ wieder los. Nach einigen Wiederholungen ließ der Schmerz nach.
„Signorina, ist alles in Ordnung?“, hörte sie die schrille Stimme fragen.
Vestalia wagte einen zweiten Versuch. Es brauchte eine Weile, bis sie sich an das Sonnenlicht gewöhnt hatte. Schließlich sah sie in das besorgte Gesicht eines Mannes mit dunklen, buschigen Augenbrauen. Als sie sich umsah, stellte sie fest, dass sie sich in einem karg eingerichteten Raum befand. Es erinnerte sie an ein Krankenzimmer, jedoch war hier kaum mehr als das Notwendigste an Mobiliar vorhanden: die Pritsche, auf der sie lag; ein Instrumententisch, darauf eine Schüssel mit blutigen Stofffetzen; ein Hocker, auf dem der Mönch saß; und zuletzt eine hölzerne Arzneikommode am Fenster. Es fiel ihr wieder ein - sie war im Kloster des Dominikanerordens. Sie hatte eine Autopanne auf der Landstraße gehabt und die Mönche waren ihr zu Hilfe geeilt. Während sie darauf gewartet hatte, dass der Reifen ausgetauscht wurde, hatte Frater Federico mit ihr eine Führung durch das Kloster gemacht.
„Signorina Vestalia, wie geht es Ihnen? Ist Ihnen schwindelig?“, drängte sich Frater Federico in ihre Gedanken.
„Nur leichte Kopfschmerzen“ Vestalia richtete sich auf.
„Langsam, Signorina! Sie sollten lieber noch ein wenig liegen bleiben.“, versuchte der Mönch sie zu warnen.
Zu spät. Vestalia wurde schwindlig und sie kippte nach hinten. Frater Federico fing sie gerade noch rechtzeitig auf.
„Das war wohl zu schnell“, bemerkte